Tchaikovsky, Peter I.

Symphonie No. 1/Capriccio Italien

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Oehms Classics OC 760
erschienen in: das Orchester 03/2011 , Seite 71

Als sich im 19. Jahrhundert die russische Musik von den westeuropäischen Einflüssen zu emanzipieren begann, waren die meisten ihrer Tonschöpfer Beamte des Riesenreiches. Nur an den Wochenenden konnten es sich daher die zahlreichen „Sonntagsmusiker“ leisten, wie sie Alexander Borodin mit „trauriger Ironie“ nannte, ihren musikalischen National-Fantasien hinzugeben. Mussorgsky und Tschaikowsky waren die ersten, die fast gleichzeitig die Aktenberge beiseite schoben und das Komponistenleben wählten.
Doch die tonschöpferische Freiheit hatte nicht nur erfüllende Momente: Mussorgsky zerbrach an seinen Unsicherheiten, die er nach und nach im Alkohol zu ertränken suchte. Und auch Tschaikowsky durchlitt größte Seelenqualen. Nikolai Rubinstein förderte ihn, forderte von dem damals 26-Jährigen aber auch unerbittlich Höchstleistungen. Das blieb nicht ohne Folgen: „Meine Nerven sind ganz und gar nicht in Ordnung“, schreibt er an seine Brüder. Die Ursachen: „Die Sinfonie, die nicht richtig klingt“ und „die hartnäckige Überzeugung, dass ich bald sterben werde, noch bevor ich meine Sinfonie beenden kann.“
Die erste Symphonie wird zur Nagelprobe – auch für heutige Interpreten. Denn das mit Winterträume überschriebene viersätzige Werk ist keine simple Programmmusik. Für Tschaikowsky sind die Satzüberschriften mehr Assoziation, die er nur für Allegro und Adagio wählt. Er nimmt russische Themen auf und orientiert sich formal an klassisch europäischen Vorbildern. So arbeitet Christoph Poppen mit der Deutschen Radio Philharmonie die leichten Orchesterfarben, die lieblichen Melodien, die satztechnischen Feinheiten heraus, ohne gleich die „Träumerei auf winterlicher Fahrt“ des ersten Satzes in die undurchdringliche Seelenlandschaft der späteren Tschaikowsky-Werke zu verlegen. Poppen lädt den Hörer dieses Livemitschnitts im zweiten, zwischen Dur und Moll schwankenden Satz vielmehr zu einer beschaulichen Reise durch fließende harmonische Bewegungen ein – allein dieser Binnensatz hätte wie auch das anschließende Scherzo ein bisschen schneller genommen werden können. Dennoch entgeht Poppen mit glänzender Akkuratesse dem gefährlichen Ballast, der insbesondere im Finale aus der reichlichen Verwendung von Blech und Schlagwerk resultiert. Punktgenau trifft er damit die Stimmung des vielfach umgearbeiteten Werkes des jungen Tschaikowsky: weniger Wolga-Sentimentalität als vielmehr Leidenschaft und feiner Klangsinn.
Deutlich mehr von dieser Leichtigkeit hätte man sich allerdings bei der „Zugabe“, dem Capriccio Italien gewünscht. Denn immerhin hatte Tschaikowsky in diesem Stück seine schweren Gedanken mit italienischer Lebenslust ausgetrieben. Aber Christoph Poppen und die Deutschen Radio Philharmoniker machen unmissverständlich deutlich: Flüssige italienische Motive treffen ohne Zweifel auf russische Themendurchführung. Ein wenig Restschwere belässt Christoph Poppen somit hinter der Maske des italienischen Karnevals, hinter dem südländischen Treiben bis zum wilden Tarantella-Finale.
Christoph Ludewig