Anton Bruckner
Symphonie in d-Moll „Nullte“ WAB 100
Mozarteumorchester Salzburg, Ltg. Ivor Bolton
Beim Mozarteumorchester Salzburg zählen Entwicklungsstränge aus der Tradition viel. Gottfried Kasparek erwähnt im Booklet-Text zum Beispiel die Aufführung des Orchesters von Bruckners Siebter 1969 unter Leopold Hager und kommt bei dieser CD-Veröffentlichung an, einer Aufnahme der „Nullten“ aus dem Jahr 2018. Aber Kasparek erwähnt nicht den Quantensprung des Klangkörpers in den letzten 50 Jahren: Das Mozarteumorchester nahm eine enorme Entwicklung vom bahnbrechenden Zyklus der frühen Mozartopern bis zu Ivor Boltons Ambitionen für die historisch informierte Aufführungspraxis. Gerade angesichts des Bruckner-Jubiläums 2024 wäre es spannend zu vergleichen, inwieweit zwischen Konzerten bei den Salzburger Festspielen – etwa zum großen Bruckner-Zyklus 2014 – und den Reihen des Mozarteumorchesters stilistische Parallelen oder exemplarische Unterschiede erkennbar wären.
Auf alle Fälle stellte sich Ivor Bolton bereits früher gegen den Strom romantischer Klang-Narrative, zu deren Genealogie zum Beispiel Andris Nelsons sich bei seiner Einspielung mit dem Gewandhausorchester Leipzig bekannte. Generell achtet Bolton bei den Streichern auf eine fast karge Verdichtung der Linien. Passagen der Holzbläser kommen in kammermusikalischer Konzentration mit Verzicht auf spirituelles Aufblühen. Im fast eine Viertelstunde dauernden Andante bevorzugt Bolton starke Kontraste zwischen mittleren Dynamikbereichen und Pianissimi an der Grenze zur Unhörbarkeit. Im Scherzo-Presto sind die Streicher-Läufe von bizarrer Munterkeit, welche Bruckner sogar in Nähe zu Berlioz setzen. Statt in einen schwärmerisch verzückenden Überflieger-Gestus aufzubrechen, bremst Bolton ab und kultiviert eine verbindliche Trockenheit mit introvertierten Wärmemomenten. Bolton nimmt WAB 100 als Komposition von vollgültigem Wert, gerade weil er keinen passionierten Enthusiasmus in seine Interpretation setzt und eine konzentrierte bis gelassene, stellenweise sogar entspannte Haltung zeigt.
„Bruckner war sicher nie ein ‚neudeutscher‘ Komponist“, akzentuierte bereits der Dirigent Hartmut Haenchen. Bolton will das offenkundig bestätigen. Er und das Mozarteumorchester zeigen in dieser Einspielung eher Nähe zu Schubert und Mendelssohn als Bruckners musikalische Affinität zu Wagner. Das ist kurzweilig, vergrößert die Kontraste zwischen den einzelnen Sätzen und erhöht generell die Spannung des Hörens, weil es keine Sättigung gibt. Bruckners Nullte, die der Komponist selbst verworfen hatte, gibt noch mehr Rätsel auf als ihre Bezifferung. Bolton betreibt Entmystifizierung der konstruktiven Art. So ist diese Aufnahme eine sehr lohnende und das Bruckner-Bild um eine streitbare Interpretation bereichernde Veröffentlichung der im Nachlass gefundenen und erstmals 1924 zum 100. Geburtstag des Komponisten in Klosterneuburg erklungenen Partitur.
Roland Dippel