Hector Berlioz

Symphonie fantastique op. 14

Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, Ltg. Sir Colin Davis

Rubrik: Rezension
Verlag/Label: BR Klassik
erschienen in: das Orchester 10/2024 , Seite 72

Das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks widmet sich wie nur wenige deutsche Klangkörper der eigenen Geschichte. Diese wurde zweifellos von vielen großen Dirigenten mitgeschrieben, deren historische Aufnahmen mit dem BR-Orchester nun wieder dem Licht der Öffentlichkeit zugeführt werden.
Der Engländer Sir Colin Davis, 2013 im Alter von 86 Jahren gestorben, war von 1983 bis 1992 Chefdirigent des Ensembles. Ein Gentleman durch und durch, ohne Allüren, kein Pultlöwe, dafür feingeistig und stets nah am Orchester – so wird der Mann beschrieben, der in einer ärmlichen Familie in Südengland als fünftes von sieben Kindern zur Welt kam. Der studierte Klarinettist, der mit einer von Hans Pfitzner dirigierten Fassung der achten Beethoven-Sinfonie die Welt der Musik entdeckt hatte, leitete im Laufe seines Lebens zahlreiche große Orchester als Gast und auch als Chef. Einen besonderen Schwerpunkt legte er in seinen klanglich austarierten, emotional einfühlsamen bis hintergründigen Interpretationen auf die Werke von Mozart, Beethoven, Michael Tippett und – Hector Berlioz.
Im eigenen Label des BR-Symphonieorchesters ist nun mit einer herausragenden Live-Aufnahme das wohl berühmteste Werk des Instrumentationszauberers Berlioz gewürdigt worden: die Symphonie fantastique op. 14, Mutter aller romantischen Programmmusik. Die autobiografisch motivierte Geschichte dazu ist bekannt: Ein junger Künstler wird bis zum Wahnsinn von der unglücklichen Liebe zu einer schönen Frau gequält, die als „Idée fixe“ in allen fünf Sätzen und gerne unvermittelt auftaucht. Eine höllische Orgie bereitet den Qualen ein schreckliches Ende. Weniger bekannt ist: Berlioz hat die Angebetete in der realen Welt später tatsächlich geheiratet, es aber nicht lange mit ihr ausgehalten.
Zunächst besticht in der Produktion aus dem Jahr 1987 die tontechnische Qualität, die deutlich über derjenigen der späteren Aufnahme von Colin Davis mit dem London Symphony Orchestra (2001) liegt. Ohne vordergründige Effekthascherei, dafür mit umso mehr Feinsinn für die klanglichen Extreme der Partitur, für deren Zärtlichkeiten ebenso wie für ihren existenziellen Furor, entwickelt Davis seine Lesart. Ihm gelingt es, als sei es das Natürlichste auf der Welt, die Übergänge von der eleganten Salonatmosphäre zur bedrohlichen Überhitzung etwa im 2. Satz („Un bal“) zu moderieren. Wunderbar der helle französische Klang des Flügelhorns. Die Intensität steigt mit jedem weiteren Abschnitt, zwischen Einsamkeit, Innigkeit, Liebesglühen auf der einen und apokalyptischen Schrecken auf der anderen Seite pendelnd. Immer wieder stockt einem der Atem vor lauter Schönheit und Wucht. Erstaunlich genug: Wenige Jahre nach der Aufnahme in München hat Davis mit den Wiener Philharmonikern (1991) eine neue und ebenso überzeugende Interpretation vorgelegt.
Johannes Killyen