Galina Ivanovna Ustvolskaya

Suites und Poems

Leningrad Philharmonic Orchestra, Ltg. Yevgeny Mravinsky/Arvids Jansons/Vladislav Lavrik

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Brilliant Classics
erschienen in: das Orchester 04/2020 , Seite 73

Gibt es so etwas wie eine sowjetische „klassische“ Musik? Wenn wir uns diese Doppel-CD vornehmen und mit ihr um die Welt reisen, dann lautet die Antwort ganz einfach ja! Denn die hier vereinigten Stücke, komponiert zwischen 1953 und 1961, können einfach nirgendwo anders entstanden sein als in der Sowjetunion. Was aber keineswegs ein Verdikt ist – denn ungeachtet des Attributs „sowjetisch“ gibt es in Ustwolskajas Musik so manchen Passus, der nicht eben jene „Linientreue“ aufweist, wie sie in Stalins Reich und auch noch später verlangt wurde.
Dem berühmt-berüchtigten „Formalismus“-Vorwurf entging auch sie nicht (1948). Ihre Werke wurden in der Sowjetunion so gut wie nie aufgeführt, was sich erst nach der osteuropäischen Wende, initiiert vom musikalischen Westen, in überschaubarem Maß änderte.
Überhaupt war die oft als „rätselhaft“ charakterisierte Ustwolskaja (1919-2006) eine Komponistin, die so recht in gar keine Schublade passen mochte. Sie war Schülerin des von ihr begeisterten Schostakowitsch, der ja bekanntlich auch selbst den einen oder anderen Strauß mit seinem politischen Regime auszufechten hatte. Was die Schülerin aber nicht hinderte, ihren eigenen musikalischen Weg zu verfolgen. Im Gegenteil: In ihrer Musik hört man nur gelegentlich Einflüsse ihres Lehrers heraus (zum Beispiel in der Rhythmik), dessen Musik sie insgesamt sogar ablehnte. Dagegen aber gibt es in einigen Schöpfungen Schostakowitschs „Anleihen“, die bei Galina Ustwolskaja vorgenommen wurden. Oder, in Schostakowitschs Worten: „Nicht Du befindest Dich unter meinem Einfluss, sondern ich mich unter Deinem.“
Auf der ersten der beiden CDs finden sich ihre selten aufgeführten drei Suiten: Junge Pioniere (ein Auftragswerk, das sie nicht in ihre eigene Werkliste, die ohnehin nur 25 von den insgesamt 36 komponierten Titeln umfasst, mit aufgenommen hat), die Kindersuite und die Sportsuite (Letztere ebenfalls nicht im Werkkatalog zu finden). Die zweite CD enthält ihre sogenannten Poeme Steppenlichter, Eine Heldentat und Poem über den Frieden. Alle drei Kompositionen fehlen in ihrer eigenen Werkliste.
Ihre Schöpfungen zu analysieren, lehnte die Komponistin ab: „Alle diejenigen, die meine Musik wirklich lieben, bitte ich, auf eine theoretische Analyse zu verzichten.“ Gleichwohl bleibt festzuhalten, dass auch sie (wie beispielsweise Gija Kantscheli) eine Komponistin „der Stille“ ist. Und es muss auch kein Geheimnis bleiben, dass sie ihre Musik, ähnlich wie Alfred Schnittke oder Arvo Pärt, sich vielfach aus Clustern entwickeln lässt.
Vorliegende Auswahl aus dem Werk Ustwolskajas ist schon allein deshalb verdienstvoll, weil es sich mit Ausnahme der Kindersuite und des Poems Steppenlichter um Ersteinspielungen handelt, die alten
Archivaufnahmen entnommen wurden.
Friedemann Kluge