Ewald Sträßer

Suite für Violine allein

hg. von Gudrun Höbold und Dietmar Berger

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Dohr
erschienen in: das Orchester 1/2022 , Seite 70

Ewald Sträßer (1867-1933) gehört zur großen Gruppe all jener Komponisten, deren Schaffen heute so gut wie vergessen ist, auch wenn er sich – wie es im knappen Vorwort zur vorliegenden Erstausgabe heißt – zwischen 1910 und 1920 „im Zenit seines Erfolges“ befand und berühmte Dirigenten wie ­Arthur Nikisch, Richard Strauss, Willem Mengelberg, Felix Wein­garten und Wilhelm Furtwängler seine Werke aufführten.
Die viersätzige „Suite für Violine allein“ – sie existiert auch in einem gleichfalls in der Edition Dohr publizierten, erst später angefertigten Arrangement für Violoncello – entstand 1926, in einer Zeit also, als Sträßer in der Nachfolge von Josef Haas als Kompositionslehrer an der Hochschule für Musik Stuttgart tätig war. Unverhohlen beschwört der Komponist in Gestus, Form und Stilistik den Geist Johann Sebastian Bachs, auch wenn sich der übergeordnete Tonartenplan – Präludium und Fuge stehen in e-Moll, der unbetitelte langsame Satz bewegt sich im Rahmen von A-Dur/a-Moll, und die abschließende Gigue führt das Stück in G-Dur zu Ende – von diesem Vorbild absetzt.
Insgesamt ist die Suite durch eine Verwendung historischer Formmodelle ohne größeren Innovationsanspruch gekennzeichnet. Dieser Umstand trägt dazu bei, dass fast alle Sätze aufgrund ihres weitgehend historisierenden Umgangs mit Formhülsen etwas steif und schulmeisterlich wirken, selbst wenn man in Betracht zieht, dass der harmonische Rahmen weiter ausgelotet wird als in den barocken Vorbildern und Anweisungen zur Wahl eines „freien Zeitmaßes“ im ersten und dritten Satz von einer streng durchgehaltenen Metrik wegführen.
Das musikalische Geschehen bleibt überwiegend simpel und orientiert sich an den Grundlagen einer die ästhetischen Entwicklungen der Entstehungszeit vernachlässigenden musikalischen Sprache, weit entfernt von jenem kompositorischen und klanglichen Raffinement, mit dem beispielsweise Max Reger zwei Jahrzehnte zuvor und Eugène Ysaÿe nur drei Jahre früher ihre Relektüren Bach’scher Satztypologien ausstatteten. Im Gegensatz zu diesen Höhepunkten der Violinliteratur dominiert bei Sträßer von Anfang an der Eindruck einer bloßen Stilkopie, der ich – auch wenn ich der Musik selbst nur wenig abgewinnen kann – zumindest einen gewissen didaktischen Wert zubillige: Auch wenn die Suite aufgrund ihrer ­naiven Machart nicht interessant genug für eine Platzierung in Konzertaufführungen erscheinen mag, könnte sie doch immerhin als Vorstudie zu Bachs Sonaten und Par­titen einen Platz im Unterricht ­erobern.
Vom spieltechnischen ­Niveau her ist das Stück nicht ­übermäßig schwierig und kann von fortgeschrittenen Schülern durchaus bewältigt werden. Insbesondere die ersten beiden Sätze stellen zwar ­gewisse Forderungen an ein gut ausgeprägtes und intonations­sicheres Doppelgriff- und ­Akkordspiel, doch lässt sich beispielsweise die Fuge relativ gut
vom Blatt spielen, weil die polyfone Konstruktion simpel und leicht überschaubar ist.
Stefan Drees