Corina Kolbe

Suche nach dem verlorenen Klang

In Toblach wurde Mahlers Neunte auf historischen Instrumenten aufgeführt

Rubrik: Zwischentöne
erschienen in: das Orchester 02/2023 , Seite 38

Eine stille Magie geht von dem Ort aus, an dem Gustav Mahler seine letzten Werke schuf. Hier in Toblach im Südtiroler Hochpustertal verbrachte er mit Frau Alma und Tochter Anna den Sommer 1908 bis 1910. Zum ungestörten Arbeiten zog er sich in eine schlichte Holzhütte zurück, die bis heute erhalten ist. In dem Komponierhäuschen schrieb er Das Lied von der Erde, die neunte Sinfonie und die unvollendet gebliebene zehnte, weite grüne Wiesen und Berggipfel vor Augen.
Diese Atmosphäre inspiriert auch den Dirigenten und Cellisten Philipp von Steinaecker, der kürzlich mit Stipendiaten der Gustav Mahler Akademie Bozen und erfahrenen Orchesterkollegen aus vielen Ländern die neunte Sinfonie auf Ins­trumenten aus ihrer Entstehungszeit aufgeführt hat. Rund hundert Musiker, etwa die Hälfte von ihnen Akademisten, saßen dicht an dicht auf der Bühne des Toblacher Kulturzentrums, einem ehemaligen Grandhotel, wo vor dem Ersten Weltkrieg auch Könige logierten. Spannung lag in der Luft, als das wagemutige Originalklangprojekt zum ersten Mal der Öffentlichkeit präsentiert wurde. Das Ergebnis mehrjähriger intensiver Vorbereitungen, die sich durch die Coronapandemie ungeplant verlängert hatten, überraschte in vielerlei Hinsicht. Der Klang war dunkler, geerdeter und wärmer als das, was man von Mahler-Interpretationen auf modernen Instrumenten kennt. Die Bläser, deren individuelle Farben immer wieder eigenwillig hervorstachen, fanden mit den auf Darmsaiten spielenden Streichern dennoch zu einem stimmigen Gesamtklang zusammen.
Steinaecker, der als Cellist in John Eliot Gardiners Orchestre Révolutionnaire et Romantique mit der historisch informierten Aufführungspraxis vertraut gemacht wurde, entschied sich bewusst dafür, das Mahler-Projekt nicht mit einem Spezialensemble zu realisieren. Die Profis, die gemeinsam mit den Stipendiaten auf die Bühne gingen, kamen unter anderem aus den Reihen der Sächsischen Staatskapelle Dresden, des Staats­orchesters Kassel, der Wiener Symphoniker, des Mahler Chamber Orchestra, des Basler Kammerorchesters, des Amsterdamer Concertgebouw­orkest, der Stockholmer Philharmoniker und des Orchestra dell’ Accademia Nazionale di Santa Cecilia in Rom.
Finanziert wurde das ambitionierte Unterfangen von der Stiftung Ferruccio Busoni – Gustav Mahler Bozen und der Stiftung Euregio Kulturzentrum Gustav Mahler Toblach. Letztere kaufte mit Unterstützung von Mäzenen die Instrumente an und ließ sie restaurieren. Mahler hatte in seiner Zeit als Direktor der Wiener Hofoper zwischen 1897 und 1907 das gesamte Bläserinstrumentarium und das Schlagwerk neu anschaffen lassen. Der Schriftverkehr, der in der Österreichischen Nationalbibliothek aufbewahrt wird, half Stein­aecker und seinen Mitstreitern bei der Suche. „Wir waren jeden Tag auf Internetplattformen unterwegs und haben Auktionskataloge durchforstet“, berichtet er. „Manche Instrumente lagen jahrelang auf Dachböden von Amateurmusikern oder in Instrumentenlagern großer Sinfonieorchester.“
Steinaeckers Ehefrau Chiara Tonelli, wie er selbst ebenfalls Gründungsmitglied des Mahler Chamber Orchestra, musizierte auf einer Holzquerflöte von Louis Lot aus dem Jahr 1875. Die Pianistin Mitsuko Uchida hat sie für das Projekt gestiftet. Walter Voglmayr, Soloposaunist der Wiener Symphoniker, bekam ein Instrument der Leipziger Firma Schlott. „Als ich das erste Mal hineinblies, war es so, als würde ich eine Wundertüte öffnen.“ Roland Denes vom Budapest Festival Orchestra spielte ein Originalinstrument des Paukenbauers und Musikers Hans Schnellar, der mit Mahler zusammenarbeitete. Zum Einsatz kamen auch seltene Wiener Oboen von Hajek und Stecher, Klarinetten von Berthold, Heckel-Fagotte, Wiener Genossenschaftshörner und Érard-Harfen. Jörg Winkler, Solobratschist im Orchester des Maggio Musicale Fiorentino, setzte sich selbst ans Steuer eines Lieferwagens, um riesige Röhrenglocken aus der Toskana nach Südtirol zu bringen. Um 1900 hatte das Stadttheater von Florenz diese Glocken für Puccinis Oper Tosca anfertigen lassen, auch heute werden sie noch verwendet.
Die historischen Instrumente stellten alle Beteiligten vor Herausforderungen, denn die Spieltechniken mussten entsprechend angepasst werden. Die Streicher wurden von dem Musikwissenschaftler Clive Brown beraten, einem Spezialisten auf dem Gebiet der Aufführungspraxis der Romantik. „Es ging darum, die Vergangenheit wiederzuentdecken, ohne sie reproduzieren zu wollen. Denn das wäre unmöglich“, sagt er. Stein­aecker ergänzt: „Wir versuchten zu verstehen, für welche Instrumente Mahler schrieb, wie er sie einsetzte, an welchen Stellen er an die Grenzen dieser Instrumente ging. Damit wollten wir einen Beitrag zur Rezeptionsgeschichte seiner Musik leisten und auch unser eigenes Verständnis von Tradition überdenken.“
Im 20. Jahrhundert sei man zu der Überzeugung gelangt, dass die Notenschrift der einzige Wegweiser zu den Intentionen eines Komponisten sei. Das entspreche aber nicht der Wahrheit, erklärt Brown. „Hier wurde jetzt nicht strikt das gespielt, was in der Partitur notiert ist. Bei den Tempi und bei der Phrasierung erreichte das Orchester damit eine natürliche Flexibilität, die bei den meisten modernen Aufführungen verlorengegangen ist.“
Den Musikern war in Toblach anzumerken, dass sie gewissermaßen auf der Stuhlkante saßen. Als die Streicher zum Schluss im Adagissimo sachte im Nichts verklangen, hielten wohl alle im Saal den Atem an. Das Mahler Academy Orchestra trat danach auch in Bozen und in Ferrara auf. „Wir wollten die Neunte möglichst so spielen, wie sie bei ihrer Wiener Uraufführung 1912, ein Jahr nach Mahlers Tod, erklungen war“, sagt Stein­aecker. Im Lucerne Festival Orchestra hatte er die Sinfonie 2010 unter Leitung von Claudio Abbado aufgeführt. „Ich bin zwar nicht sicher, ob Claudio mit allem, was wir hier gemacht haben, unbedingt einverstanden gewesen wäre“, sagt er und lacht. „Sein Geist hat uns jedenfalls begleitet.“ Von seinem Mentor hat er gelernt, auch das Kernrepertoire immer wieder zu hinterfragen: „Wenn wir meinen, irgendwelche Wahrheiten zu kennen, dann sind das in Wirklichkeit doch nur Momentaufnahmen.“ Steinaecker wünscht sich nun, das Originalklangprojekt auch in Wien, Amsterdam und an anderen Orten vorstellen zu können, an denen Mahler als Komponist und Dirigent Spuren hinterlassen hat.