Jörg Widmann
Studien über Beethoven. 6., 7., 9. und 10. Streichquartett (Cavatina)
Partitur und Stimmen
Was inspiriert einen so produktiven Komponisten wie Jörg Widmann zu seinen Werken? Ganz offenbar sind es die großen Vorbilder aus der Musikgeschichte, noch viel mehr aber deren Schlüsselkompositionen. Man könnte meinen, da sei Gefahr im Verzug, wenn einer ein neues Werk zum Beispiel über Beethovens Streichquartett „mit der Großen Fuge“ schreibt; oder sich an dessen Streichquartett in cis-Moll op. 131 orientiert. Bedürfen diese Meisterwerke einer nach-komponierenden Interpretation, einer „Übersetzung“ in unsere Zeit oder gar einer Überarbeitung? Noch dazu ohne den künstlerischen Bruch eines Besetzungswechsels?
Schaut man in die Partituren von Widmanns jüngsten Streichquartetten, die nach seinen ersten fünf wieder einen groß angelegten Zyklus darstellen, oder hört man diese ausufernden Werke, wird schnell klar, dass es sich hier weder um Neuinterpretationen, Paraphrasen, Collagen noch um simple Nachschöpfungen handelt. Jörg Widmann gelingt es, sich von Beethovens Streichquartett-Gipfeln zu weiteren, ganz eigenen Meisterwerken inspirieren zu lassen. In der Beschäftigung mit Beethoven greift der vielgespielte deutsche Komponist auf sein gesamtes technisches und musikalisches Können zurück und entwirft Streichquartette, die Dimensionen sprengen und die bei entsprechend hochkarätiger Aufführung der Wirkung ihrer großen „Vorbilder“ in nichts nachstehen.
Groß dimensioniert ist das einsätzige 6. Streichquartett, das Jörg Widmann im Auftrag von Anne-Sophie Mutter komponiert und dieser auch gewidmet hat. Wie zwingend und musikalisch logisch die Verbindung dieser beiden Künstlerpersönlichkeiten ist, kann man in einem Video auf YouTube sehen und hören, das im Rahmen der Vorbereitungen zur Uraufführung durch Anne-Sophie Mutter 2020 in Tokio entstanden ist.* Widmann fordert den vier Musiker:innen in einem halbstündigen Monumentalsatz alles ab: Eine nie nachlassende tonliche Intensität, Kontraste in den Makro- und Mikrostrukturen, gesangliche Linien und orchestrale Wucht und eine wahrhaft aufs Äußerste zielende Auffächerung von Klang und Dynamik. Der Komponist scheint phasenweise von seinem großen Vorbild fast fortgerissen zu sein, findet aber doch immer wieder zu gliedernden Strukturen zurück (sind diese bei Widmann jemals abwesend?).
Jörg Widmanns Notentext gibt akribische Anweisungen zur Ausführung und bildet schon optisch die Intensität und Steigerungsfähigkeit seiner Musik ab. Der Titel Studie über Beethoven darf dabei wohl kaum im Sinne einer Improvisation verstanden werden. Vielmehr gibt der Komponist im Vorwort zur vorliegen Ausgabe zu verstehen, dass ihn Beethoven bereits lange als Inspirationsquelle beschäftigt. Widmann fügt hinzu, dass sein wieder fünf Werke umfassender zweiter Zyklus von Streichquartetten ein Vorhaben mit „ungewissem Ausgang“ sei. Von dieser „Unsicherheit“ ist in den Kompositionen selbst jedoch vordergründig nichts zu spüren. Da scheint alles wohl überlegt und durchdacht konstruiert zu sein. Nichts an dieser so intensiven Musik wirkt beiläufig oder gar paraphrasiert. Wenn das Vorbild Beethoven durchklingt, dann tut es das perfekt und überaus organisch eingebettet.
Das setzt sich auch im 7. Streichquartett fort, das, bei ähnlicher Spieldauer, nun zwei Sätze aufweist. Der Komponist spricht von einem noch einmal erhöhten „Dichtegrad der Textur“, und in der Tat wirkt gerade die Partitur des Kopfsatzes wie die einer großbesetzten und klangmächtigen Sinfonie. Weit angelegte Steigerungen mit retardierenden Elementen prägen den Finalsatz, in dem die zahlreich eingesetzten Lautstärkebezeichnungen
(z. B. „ffffff“) einmal mehr Hinweise geben auf die geforderte instrumentale Dynamik und auch die Leidenschaft, mit der hier komponiert wurde (und eben auch gespielt werden muss).
Im 9. Streichquartett nähert sich Jörg Widmann formal noch etwas mehr den klassischen Vorbildern und entwirft so etwas wie seinen Prototyp des viersätzigen Streichquartetts. Die Spieldauer ist mit 35 Minuten im Vergleich nur leicht verlängert, doch zeigt der Blick in die Noten sehr schnell, warum die Partitur so viel umfangreicher als die des 6. oder 7. Quartetts ist. Widmann komprimiert seine musikalische Sprache weiter, verdichtet Klang und Bewegungen und gebraucht in seiner Beschreibung der „Informations- und Impulsdichte“ des Scherzos und des Finales das Adjektiv „monströs“. Dabei ist dieses zentrale Streichquartett des Zyklus keineswegs eine theoretische Studie oder so etwas wie „eingedickter“ Beethoven. Jörg Widmann entwirft hier große Musik, die mit großer Stimme und langem Atem spricht.
Ist das 9. Streichquartett das zentrale und dominierende Werk im Zyklus, so ist das abschließende 10. vielleicht das definierende. Mit dem Titel Cavatina bezieht sich Jörg Widmann auf den gleichnamigen Satz aus Ludwig van Beethovens 13. Streichquartett op. 130. In der Dimensionierung geht er allerdings deutlich über das gewählte Vorbild hinaus und lässt seine vier Streicher über 16 Minuten weit aussingen. Und natürlich ist die schlichte Überschrift Cavatina irreführend in dem Sinne, dass Widmann hier kein zurückgenommenes liedhaftes Schlussstück komponiert. Vielmehr weist der ebenfalls wieder deutlich durchstrukturierte Satz mit seinen vielen Entwicklungen und Steigerungen über den fünfteiligen Quartettzyklus der Beethoven-Studien hinaus – ganz so, wie in Beethovens Werk nach der Cavatina ursprünglich die Große Fuge alle bisher dagewesenen musikalischen Dimensionen in der Welt des Streichquartetts sprengte.
Daniel Knödler
* 6. Streichquartett mit Anne-Sophie Mutter: https://youtu.be/Xy35QfoZmH0?feature=shared