Reiner, Karel

Strophen

für Viola und Klavier

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Ricordi, München 2010
erschienen in: das Orchester 03/2011 , Seite 65

Karel Reiner ist außerhalb seiner tschechischen Heimat bis heute ein Unbekannter geblieben. Paradoxerweise scheint das auch damit zu tun zu haben, dass er als jüdischer Komponist den Holocaust knapp überlebte: Während jene Komponisten, die in den Konzentrationslagern umkamen, in den vergangenen Jahrzehnten verstärkt wiederentdeckt und in ihrer Bedeutung gewürdigt wurden, steht eine Reiner-Renaissance bislang noch aus.
Dabei galt Reiner (geboren 1910) nach seinem Studium bei Alois Hába und Josef Suk bald als einer der führenden Komponisten der Prager Szene. Die Okkupation durch die Nazis und das Verbot jeglicher öffentlicher Aufführung jüdischer Musik bereitete seiner gerade beginnenden Karriere jedoch ein jähes Ende. Reiner organisierte noch eine Reihe geheimer Hauskonzerte, bevor er 1943 deportiert wurde. In Theresienstadt gehörte er neben Viktor Ullmann, Pavel Haas, Gideon Klein oder Hans Krása zu jenen Musikern, die das Lagerleben in der so genannten „Freizeitgestaltung“ kulturell prägten. Er kam (als einziger der Gruppe) mit dem Leben davon und engagierte sich nach dem Krieg lange im Verband tschechoslowakischer Komponisten. Als er dann 1970 aus Verbitterung über die politischen Folgen des „Prager Frühlings“ und die wachsende Zensur sein Parteibuch abgab, sah er sich erneut staatlichen Repressalien ausgesetzt: Zum zweiten Mal erlebte er ein Aufführungsverbot seiner Werke und musste seine öffentlichen Ämter niederlegen. Dennoch blieb er bis zu seinem Tod 1979 ein ebenso kreativer wie kritischer Komponist.
Reiners Vita eines freiheitlich denkenden, unangepassten Individualisten spiegelt sich auch in seiner Musik wider, die undoktrinär ihren eigenen Weg sucht und sich stilistischen Festlegungen erfolgreich entzieht. Der Ricordi-Verlag leistet mit einer kleinen Werkausgabe von Kompositionen aus dem Nachlass wertvolle Pionierarbeit: Die Strophen für Viola und Klavier, deren Uraufführung Reiner 1977 noch erleben konnte, sind jedenfalls eine echte Entdeckung. Reiner erweist sich hier als selbstbewusster und fantasievoller Komponist, der mit großer Ökonomie zu Werke geht, ohne sich einem der zahlreichen Nachkriegs-Ismen zu verschreiben.
Die vier knappen Sätze sind als kontrastreiche Charakterstücke angelegt, deren Anlage bemerkenswert assoziativ oder „schweifend“ ist: Die formalen Verläufe kommen ganz ohne gängige Schemata aus und werden vor allem durch kurze, meist rhythmisch definierte Floskeln zusammengehalten, die in einer überraschenden Fülle von Erscheinungsformen immer neu wiederkehren. Die harmonische Sprache ist häufig durch kleine Sekund-Reibungen geschärft, die dem natürlichen Bewegungsdrang der Stücke zusätzliche Würze verleihen. Durchaus bezeichnend der bitonale Schlussakkord der vierten Strophe (G-Dur/Fis-Dur), der wie beiläufig eine Brücke zum Ende des ersten Satzes (mit einem dräuenden Fis/G im Klavierbass) schlägt. Wer auf der Suche nach originellem Repertoire abseits der ausgetretenen Pfade ist, sollte hier zugreifen.
Joachim Schwarz