Johannes Brahms
String Sextets
WDR Chamber Players
Die Gattung Streichsextett fand bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts wenig Beachtung, sie diente gelegentlich als Hausmusik-Arrangement sinfonischer Werke. Brahms war einer der ersten, die sich nach Spohrs op. 140 aus dem Jahr 1848 dieser Besetzung zuwandten.
Die beiden Sextette, zwischen 1859 und 1865 entstanden, bewegen sich äußerlich im Rahmen traditioneller Formen, zeigen jedoch auch, wie Brahms diese durch individuelle Lösungen erweitert. Im Einleitungssatz von op. 18 erscheinen vor dem „regulären“ zweiten Thema eine motivisch aus dem Hauptthema abgeleitete Phrase sowie ein weiteres Thema, das als einziges in diesem Satz aus regelmäßigen 8-Takt-Einheiten gebaut ist. Im Übrigen dominieren hier, wie auch in den Episoden des Rondos, asymmetrische, ungeradtaktige Perioden. Die Reprise wird auf dem Quartsextakkord eingeführt. Nur der Variationssatz folgt einem strengen Schema, abgesehen von dem um einen Takt vorgezogenen Eintritt der Coda.
In op. 36 finden sich motivisch-konstruktive Momente, wie sie Schönberg in seinem berühmten Aufsatz als „fortschrittlich“ und „entwickelnde Variation“ bezeichnet hat, in noch größerer Dichte. Die Themen und Perioden sind zwar regelmäßiger gebildet, durch Dehnungen und Überlappungen werden Symmetrien jedoch mehrfach durchbrochen. Das „Agathe-Motiv“ im ersten Satz ist ein Anhängsel des Seitenthemas. Das viertönige Kopfmotiv dieses Satzes findet sich diatonisch abgewandelt im langsamen Satz wieder, einem Variationssatz ohne „greifbares“ Thema, dort stark chromatisch eingefasst – ein Satz, der in seiner Abstraktheit weit in die Zukunft weist. Motivbeziehungen sind in unterschiedlicher Deutlichkeit vorhanden, Brahms vermeidet aber, wie stets, die Prägnanz von Leitmotiven.
Ein Streicherensemble des WDR Sinfonieorchesters hat die beiden Werke eingespielt, und gleich zu Beginn wird ein wesentliches Charakteristikum seiner Interpretation deutlich: Phrasen und Themen – sie sind zum Teil von beträchtlicher Länge – werden als große Spannungsbögen ausgespielt, stets in perfekter Balance, intensiv dort, wo es nötig ist, niemals forciert. Formale Gliederungspunkte werden mit dezenter Agogik gekennzeichnet. Die Durchführungsteile entfalten kontrastreiche Dynamik, im Kopfsatz von op. 18 wird die von Brahms entfesselte Motivzergliederung zu einem dramatischen Ereignis.
Beide Scherzo-Trios hat Brahms nur spärlich mit dynamischen Vorschriften versehen. Auch hier wurden vollends überzeugende Dispositionen getroffen. Das Ensemble erweist sich als in höchstem Maße homogen, dabei versucht es nicht, ein historisches Klangbild oder instrumentale Spielweisen des 19. Jahrhunderts nachzuempfinden. Die vorliegende Interpretation erweist sich in ihrer Natürlichkeit als werkgerecht. Der aufmerksame Hörer kann die strukturellen Eigenarten der Kompositionen erfahren – und gleichzeitig genießen. Auch angesichts einer bereits vorhandenen hochkarätigen Diskografie eine Referenzeinspielung!
Jürgen Hinz