Max Bruch

String Quintets & Octet

WDR Sinfonieorchester Chamber Players

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Alpha Classics
erschienen in: das Orchester 1/2022 , Seite 77

Die Geschichte verschollener Musikmanuskripte ist lang, sie erzählt von Handschriften (oder Abschriften), die sich Erben oder er­gebene Anhänger des Komponisten unter den Nagel reißen, die in Wirren von Kriegen verschwunden sind oder die von geldgierigen Sammlern meistbietend versteigert werden. Oder solche, die in Bibliotheken Staub ansammeln, um dann durch Zufall entdeckt zu werden.
Wie zum Beispiel Max Bruchs späte Streichquintette in a-Moll und Es-Dur, beide komponiert Ende des Jahres 1918, sowie sein Streichoktett in B-Dur, entstanden im März 1920. Das a-Moll-Quintett sowie das Oktett fanden sich 1988 in der Bibliothek der Londoner BBC wieder, die Noten des Es-Dur-Quintetts hingegen wurden 2006 beim Auktionshaus Sotheby’s versteigert. Jedes Mal handelte es sich um Abschriften – die Autografe gelten als verschollen – aus der Feder von Gertrud Bruch, der Schwiegertochter des Komponisten. Mehr dazu erfährt man im Booklet einer CD, die die genannten Werke in ausgezeichneten Neueinspielungen präsentiert. Die (2016 gegründeten) WDR-Sinfonieorchester Chamber Players spielen auf hohem Niveau und geben der Bruch’schen Musik, was sie braucht: wohldosiertes romantisches Pathos, Klangfülle und Geschmeidigkeit im Ton.
Max Bruch gilt vielen als anachronistischer, akademischen Idealen verpflichteter Künstler. Veränderungen, wie sie Wagner oder Liszt, um von Arnold Schönberg zu schweigen, anstießen, waren ihm ein Gräuel. Derlei geißelte der glühende Bismarck-Anhänger als „musikalische Sozialdemokratie“. Vor allem seine späten Werke schicken den Hörer auf eine Zeitreise zurück ins – aus seiner Sicht – goldene Zeitalter von Mendelssohn und Brahms. Und daran ist auch gar nichts Verwerfliches. Seit in der Musik Tonalität wieder zurückgekehrt ist (und zum Beispiel in der Literatur der realistische Roman nach dem Vorbild von Thomas Mann), werden sich daran nur Fortschrittsdogma­tiker stören. Sein Handwerk beherrschte Bruch zweifellos, und da außerdem eine gehörige Portion Inspiration und Einfallsreichtum hinzukommen, entstanden am Ende seines Lebens – Bruch starb 1920 – noch einmal drei Perlen der Kammermusik, wunderbare, melodiengesättigte Tonschöpfungen, aus denen immer wieder Mendelssohn, Brahms oder auch Dvořák hindurchschimmern.
In beiden Quintetten blickt Bruch außerdem mit Wehmut auf sein Schaffen zurück, indem er aus früheren Werken zitiert. Das dreisätzige Oktett besetzt er nicht als doppeltes Quartett, sondern ersetzt ein Cello durch einen Kontrabass. Die Aufnahmen entstanden in der Philharmonie Köln (Quintette) und dem WDR Funkhaus (Oktett).
Mathias Nofze