Gavin Bryars

String Quartet No. 4

> String Quartet No. 4 Partitur und Stimmen

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Schott
erschienen in: das Orchester 07-08/2021 , Seite 66

Über zwei Jahrzehnte ließ
Gavin Bryars nach seinem dritten Streichquartett (1998) verstreichen, bevor er diese traditionsreiche Kammermusikgattung erneut mit einem größer dimensionierten Werk bedachte. Dass sich der Komponist in diesem Zeitraum verstärkt mit älterer Musik auseinandergesetzt hat, lässt sich an unterschiedlichen Details des vierten, im Januar 2020 vom Smith Quartet uraufgeführten Streichquartetts festmachen.
Zunächst einmal kündet die stark vereinfachte Harmonik, die beispielsweise im Eingangsabschnitt ausschließlich auf einer diatonischen Skala basiert und auch im weiteren Verlauf nur in geringem Maße durch chromatische Tonschritte eingefärbt wird, von solchen Einflüssen. Darüber hinaus rückt Bryars aber auch durch die geforderten Vortragsweisen – er schreibt häufig einen Poco-vibrato-Strich über dem Griffbrett oder den völligen Verzicht auf Vibrato vor und erweitert den Klang zudem, vor allem auf Arpeggien, immer wieder durch ein in die Fläche ausstrahlendes Sul-tasto-Spiel – in die Nähe eines quasi-barocken Klangideals.
Unterstützt wird dies alles durch einen klaren, meist taktweise fortschreitenden Duktus, der nur selten seine Fixierung auf durchlaufende Viertel- oder Achtelimpulse zugunsten von aufhaltenden Pausen, Synkopen oder triolischen Werten aufgibt. Insgesamt fügt Bryars seine Musik unter maximaler Ausnutzung von Stimmenkombinatorik aus relativ wenigen, letzten Endes sehr einfachen musikalischen Bausteinen zusammen. Dies zeigt sich beispielsweise dort, wo er eines der Instrumente mit einem gedehnten instrumentalen Gesang in den Vordergrund rückt, während ein anderes mit Arpeggien begleitend den harmonischen Raum umschreibt und die übrigen beiden dieses Geschehen durch eine aus parallelen Terzen oder Sexten gefügte Achtelbewegung ergänzen. Indem Bryars diese Funktionen in regelmäßigen Abständen miteinander vertauscht und jeweils anderen Quartettmitgliedern zuweist, unterzieht er den resultierenden, ansonsten wenig veränderten Tonsatz einer jeweils neuen Beleuchtung.
Dieses Verfahren – es wird auch in anderen Passagen auf vergleichbare Weise realisiert – macht deutlich, worin der interpretatorische Reiz dieser scheinbar so unproblematischen, zumindest spieltechnisch nicht exorbitant schwierigen Komposition liegt: Es geht darum, über eine Dauer von rund 20 Minuten hinweg die subtilen Veränderungen der aus repetierten oder leicht variierten Bausteinen gefügten Texturen hörbar zu machen und die Verschiebungen, die sich aus dem Zusammenwirken von Harmoniewechseln und einer Veränderung des Vorder- und Hintergrunds durch Vertauschung von Stimmenhierarchien ergibt, adäquat und klangfarblich überzeugend zu präsentieren.
Das erfordert Geduld und Fingerspitzengefühl, zumal Bryars die Interpreten in die Pflicht nimmt, indem er ihnen jeglichen virtuos auftrumpfenden Gestus verweigert und den Fokus stattdessen auf kleine, unscheinbar anmutende Details lenkt, die jedoch immer eine sehr genaue Ausführung erfordern.
Stefan Drees