George Enescu

Strigoii

Oratorium in 3 Teilen, Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin, Ltg. Gabriel Bebeselea

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Capriccio
erschienen in: das Orchester 03/2019 , Seite 69

Zu den unterschätzten Komponisten der Vergangenheit gehört George Enescu (1881-1955). Geboren in einem kleinen Dorf im Grenzgebiet von Rumänien zu Moldawien, spielte er bereits mit vier Jahren Geige. Ausgebildet wurde er an den Konservatoriem in Wien und Paris, wo Maurice Ravel sein Kommilitone war. Enescu komponierte neben Werken für die Violine auch größer besetzte Vokalwerke und sogar Sinfonien. Als Solist, Kammermusiker und Dirigent bereiste er die Welt und spielte mit großen Interpreten seiner Zeit wie dem Pianisten Alfred Cortot, der Pianistin Clara Haskil oder dem Dirigenten Leopold Stokowski. Er stand am Pult namhafter Orchester wie des New York Philharmonic oder des London Philharmonic. In seinen Werken verband er innovativ die Folklore seiner Heimat mit europäischer Spätromantik und Moderne.
Gerade widmete sich die Geigerin Vilde Frang mit einem erlesenen Ensemble Enescus hervorragendem Oktett (Warner). Das Label Capriccio bietet nun eine echte Neuentdeckung: das 45-minütige Oratorium Strigoli (1916). Mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin und vier rumänischen Vokalsolisten präsentiert es Gabriel Bebesela als „Weltersteinspielung“. Der junge Dirigent ist derzeit Chef des rumänischen Staatsorchesters „Transsilvania“ aus Cluj-Napoca, deutsch Klausenburg. In diese von Vampirsagen geprägte Region führt auch das eingespielte Werk, denn mit seiner schaurig-tragischen Liebesgeschichte um den Avaren-König Arald und seine schöne Braut folgt die Komposition den im 19. Jahrhundert beliebten Vampirsujets, etwa als Oper. Das zu Grunde liegende Gedicht des rumänischen Nationaldichters Mihai Eminescu (1850-1889) vertont Enescu Wort für Wort. Gattungshistorisch handelt es sich um ein Melodram mit einem dominanten Erzähler (Bass), der die Geschichte deklamiert. Ihn unterstützen drei weitere Sänger (ein Sopran und ein Tenor als Liebespaar sowie ein Bariton als Heidenpriester). Sie übernehmen die Text-Passagen mit wörtlicher Rede.
In Enescus Autograf existiert Strigoli allerdings nur als Fragment für Singstimmen und Klavier, jedoch mit Anweisungen zur geplanten Orchestration. Das erklärt im Booklet der Komponist und Dirigent Cornel Țăranu, der die „Geister“ einst entdeckte und ab den 1970er Jahren mit Klavier gelegentlich aufführte. Die auf der neuen CD zu hörende Orchestration erstellte der renommierte rumänische Komponist und Musikprofessor Sabin Pautza.
Das Ergebnis erstaunt, denn der Bearbeiter hält sich eng an Enescus Musiksprache. Auch gelingt es ihm, die zwischen unheimlich-dunklen Stimmungen und lichten-lyrischen Momenten ausgependelte Partitur instrumental zu charakterisieren. Die harmonischen Raffinessen in Strigoli sind beachtlich, für den Entdecker Țăranu ist das Werk daher ein rumänisches Pendant zur Tristan und Isolde-Sage. Abgerundet wird diese vom Deutschlandfunk Kultur betreute und absolut lohnende Wiederentdeckung vom frühen Orchesterstück Pastorale fantaisie (1899), das vom RSB überaus klangvoll präsentiert wird.
Matthias Corvin