Johannes Brahms

Streichsextett Nr. 2 G-Dur op. 36

hg. von Katrin Eich, Stimmen/ Studienpartitur

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Henle, München
erschienen in: das Orchester 12/2019 , Seite 62

Es wird gelegentlich behauptet, Johannes Brahms sei so etwas wie der „Erfinder“ des Streichsextetts, da es vor seinem Erstling op. 18 nennenswerte Beiträge für diese Besetzung eigentlich nur von Luigi Boccherini gegeben habe. Vielleicht ist es richtiger zu sagen, Brahms habe mit seinen beiden Sextetten, die im Abstand von rund fünf Jahren entstanden sind, so etwas wie einen Trend verfestigt. Einen Trend weg von den klassischen Besetzungen wie Streichquartett oder Klaviertrio und hin zu größer besetzter Kammermusik, die auch schon einmal ins orchestrale Genre hinüberhört.
Jedoch würde man Brahms sicher missverstehen, wenn man seine Streichsextette orchestral behandelte und die Hinzunahme einer weiteren Bratsche und eines zusätzlichen Cellos zum Streichquartett allein als Ergebnis eines Wunsches nach mehr Klangfülle deuten würde. Gerade sein zweites Werk in G-Dur op. 36 ist Kammermusik pur: ein hochsensibles Geflecht an Stimmen insbesondere im ersten und im langsamen Satz, das frei ist von jedem streichorchestralen Auftrumpfen im Ton. Hier werden weder Instrumentengruppen einander gegenübergestellt, noch gibt es größere Solopassagen, in denen die übrigen Instrumente zu Begleitern herabgestuft würden. Die Strukturen sind dicht, aber stets durchhörbar, Impulse wandern in natürlichem Fluss durch die Stimmen, und man nimmt beständig die Gleichberechtigung aller sechs Partner wahr. Das geht so weit, dass man die Verschiebung des Frequenzschwerpunkts hin zu tieferen Tönen im Vergleich zur Quartettbesetzung als Vorteil für die musikalische Transparenz empfindet.
Ausgewogenheit also in jedem Aspekt. Das wird bereits durch einen Blick in die Studienpartitur deutlich, die Katrin Eich im Henle-Verlag auf Basis des Urtexts herausgegeben hat. Das Notenbild ist so transparent, wie man es von der gehörten Musik her erwarten würde. Der Eindruck, Johannes Brahms hätte in seinem Opus 36 nicht eine Note zu viel komponiert, wird hier nachdrücklich verstärkt.
Das Vorwort, in etwas altmodischer Typografie daherkommend, berichtet von der Entstehungsgeschichte des 1866 in Zürich uraufgeführten Werks und von den Schwierigkeiten des damals schon recht bekannten Komponisten, es „an den Verleger“ zu bringen – erstaunlich genug, wenn man sich den Erfolg des ersten Streichsextetts und die durchaus im musikalischen Trend liegende Besetzung vergegenwärtigt.
Die absolut präzise gesetzten und wunderbar übersichtlichen Stimmen, ebenfalls von Katrin Eich verantwortet, machen Lust auf diesen Brahms-Klassiker, der ein wenig im Schatten des Schwesterwerks steht, aber ganz bestimmt als ein durch und durch prototypischer Vertreter der Sextett-Literatur gelten darf.
Daniel Knödler