Wolfgang Amadeus Mozart

Streichquartette Bd. 1: Salzburger Divertimenti/Italienische Quartette

Urtext, hg. von Wolf-Dieter Seiffert, Studienpartitur/Stimmen

Rubrik: Rezension
Verlag/Label: Henle
erschienen in: das Orchester 02/2022 , Seite 65

Natürlich fragt man sich, wozu eine neue Urtext-Ausgabe zu Mozarts Streichquartetten nötig ist. Längst liegen doch Urtext-Ausgaben zu allen Werken Mozarts vor. Ist „Urtext“ nicht gleich Ur-Text und im Sinn des Wortes die unveränderliche, weil gegebene Ur-Fassung einer Partitur? Ist es nicht. Denn auch Genies irren sich, machen Flüchtigkeitsfehler, vergessen etwas oder schreiben unleserlich. Und viele haben schlechte Angewohnheiten, sind immer in Eile und kritzeln daher oft hektisch nieder, was ihnen gerade eingefallen ist. Manche, und nicht wenige, arbeiten häufig auch an mehreren Stücken gleichzeitig und wissen daher in der Reprise nicht mehr genau, wie sie einen Gedanken in der Exposition exakt formulierten. Für Musiker, die solche Werke einstudieren, ist das ein Albtraum.
Ein Originalmanuskript wirft daher häufig mehr Fragen auf, als es beantwortet. Und es liegt in der Natur der Sache, dass sich die Deutungen einer Urtext-Quelle mit den Jahrzehnten ändern – selbst unter Koryphäen. Es werden Korrekturen nötig, neue Erkenntnisse (oft aus anderen Zusammenhängen) wirken auf eine ältere Edition und machen neue Drucke notwendig. Auch Urtexte altern, und es gibt praktische, revidierte oder kritische neue Ausgaben. Sie unterscheiden sich meist erheblich von Faksimile-Ausgaben, die nichts als die Urschrift der Partitur wiedergeben.
Wolf-Dieter Seiffert ediert Mozarts Werke seit Jahrzehnten und korrigiert sich dabei gelegentlich auch selbst. Das zeigt, oder deutet zumindest an, dass diese Arbeit nie beendet sein wird: Ziel ist es, dem ausführenden Musiker eine Ausgabe zu bieten, die sich einerseits auf das Original – meist die Handschrift des Komponisten – stützt, aber andererseits die darin offensichtlich enthaltenen Fehler, Flüchtigkeiten und Irrtümer korrigiert. Denn der Musiker will spielen, nicht erst erforschen müssen, wie eine bestimmte Stelle in ihrer vielfältig unterschiedlichen Wiederkehr letztlich gemeint sein könnte.
Seiffert arbeitet daher mit dem Armida Quartett zusammen und dankt diesem bei dem nun neu erschienenen Band 1 sämtlicher Mozart-Streichquartette „für wertvolle Ratschläge zu einigen in den Quellen problematisch überlieferten Notentextstellen“. Dabei liegen in den hier publizierten Salzburger Divertimenti und italienischen Quartetten aus den Jahren 1770-72 die Autografe vor. Aber diese sind nicht immer verlässlich und weichen auch von Erstdrucken gelegentlich ab.
Insofern ist die Zusammenarbeit mit erfahrenen Musikern eine neue Strategie bei der Erstellung eines für die musikalische Praxis ausgefertigten Notentexts, der sich unter Berücksichtigung der Bedürfnisse von Ausführenden so differenziert wie nötig, aber editorisch zurückhaltend entfaltet und dabei so genau wie möglich an das Original, in diesem Fall das Manuskript des Komponisten, heranreicht. Ein ausführliches, dreisprachiges Vorwort und zweisprachige Kommentare ergänzen diese Publikation.
Matthias Roth