Camille Saint-Saëns

Streichquartette

Nr. 1 e-Moll op. 112/Nr. 2 G-Dur op. 153, hg. von Fabien Guilloux, Urtext, Studienpartitur und Stimmen im Umschlag

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Bärenreiter, Kassel
erschienen in: das Orchester 06/2019 , Seite 61

Nur mit jeweils ein, zwei Werken hat Camille Saint-Saëns, der für seine brillanten Orchesterwerke so geschätzte französische Komponist, verschiedene Kammermusikformationen bedacht. Je zwei Klaviertrios und -quartette und ein Klavierquintett sind darunter, und auch die Holzbläser dürfen sich über ein paar fest im Zentrum des entsprechenden Repertoires stehende Sonaten freuen. Während diese Kammermusikstücke einigermaßen gleichmäßig verteilt über die gesamte aktive Schaffensphase des Komponisten entstanden, wandte sich Saint-Saëns erst spät dem Streichquartett, also der eigentlichen Königsdisziplin in der „Kammer“, zu.
Seine zwei je rund halbstündigen Streichquartette entstanden im Abstand von knapp 20 Jahren: 1899 und 1918. Beim ersten Lesen und Hören entsprechen beide Werke sicher der Erwartungshaltung, die man an die Kammermusik von Camille Saint-Saëns haben wird: virtuose Handhabung der Streicher, dichter und pointierter Satz in den schnellen Abschnitten und eine Beschränkung auf eine klassisch anmutende Formsprache. Schaut – und hört – man genauer hin, sind die Unterschiede zwischen Opus 112 und Opus 153 tatsächlich nicht so groß. Ein kleines Experiment im zweiten Quartett bezüglich der Satzfolge (ein kurzes Interlude leitet den Schlusssatz ein, ein Scherzo fehlt) und ein teilweise etwas ausgedünnter, reduzierter Satz sind die vordergründigen Unterschiede, die der oben genannten Zeitspanne entsprechen.
Diese äußerst moderate Weiterentwicklung der Klangsprache war dann auch der Grund, warum das zweite der beiden Quartette bei weitem nicht mehr die öffentliche Beachtung erfuhr wie das erste, das in einer Reihe von privaten und öffentlichen Aufführungen (teilweise unter Mitwirkung des Widmungsträgers Eugène Ysaÿe) ins Pariser Musikleben eingeführt wurde. 19 Jahre später war der Komponist ein Vertreter der „alten Schule“, der mit seinen formal äußerst balancierten Werken nicht mehr im Mittelpunkt des Musiklebens stand und von dem man keine wirklich zeitgenössischen Beiträge mehr erwartete. Am ehesten wird man dem „späten“ Saint-Saëns im Molto adagio des zweiten Streichquartetts begegnen; dort klingen die vier Streicher schon ein wenig nach 20. Jahrhundert.
Technisch sind beide brillanten und im Musikleben unterrepräsentierten Werke fordernd. Hier wird von den Violinen, der Bratsche und dem Cello höchste Instrumentenbeherrschung, Beweglichkeit und eine absolut feingliedrige Balance des Klangs erwartet. Schon anhand des von Bärenreiter sauber dargestellten Notenbilds in der Partitur wird klar, dass die Fallstricke in Sachen Intonation, Balance der Stimmen und reaktionsschnellen Zusammenspiels vor allem in den schnellen Sätzen der beiden Streichquartette liegen.
Daniel Knödler