Evgeny Kissin
Streichquartett op. 3
Studienpartitur und Stimmen
Der gegenwärtige Konzertbetrieb hebt auf Kategorisierungen ab, auf die Einordnung von Künstlern in ein jeweiliges Fach. Doch ist es keine Seltenheit, dass es Interpreten zur Komposition hinzieht, Dirigenten mehr noch als Instrumentalisten. Evgeny Kissin gehört seit über drei Jahrzehnten zur Weltspitze der Pianisten. Dass er auch komponiert, dürfte kaum bekannt sein. Nach eigener Aussage stellte er mit Beginn seiner internationalen Konzerttätigkeit sein Komponieren zurück, in jüngster Zeit jedoch reaktiviert er dieses.
Zwar schreibt Kissin auch virtuose Klavierstücke (u.a. Toccata), beschränkt sich darauf jedoch nicht. Sein Streichquartett op. 3 entstand in Zusammenarbeit mit dem Kopelman Quartett (dessen Primarius wirkte lange im legendären Borodin Quartett mit), das das Werk einspielte.
Das Quartett ist viersätzig, die Tempoabfolge langsam – schnell erscheint zweimal. In den Affekten korrespondieren die Sätze ebenso, der erste und dritte Satz tragen Lamento-Charakter, die anderen beiden sind motorische Scherzi. Der Schlusssatz trägt die Bezeichnung „Sarcastico“ im Titel. Er erinnert stilistisch in seiner Grimassenhaftigkeit an Schostakowitsch, wie auch die Doppelpunktierung im Klagegesang des „Largo dramatico“.
Kissin verwendet Zwölfton-Felder ebenso wie tonale Liegetöne, es überwiegt eine freie, dissonanzfreudige Tonalität, insgesamt steht das Werk in C. Oft imitatorisch gesetzte, ausgreifende Linien prägen das anfängliche „Adagio liberamente“. Die Form ist offen, schon nach 30 Takten setzt eine flächige Coda ein. Das folgende motorische Allegro wirkt mit seinen unverhofften Stopps und Akzenten unruhig. Eine sich aufwärts schraubende chromatische Figur in Sechzehnteln wirkt durch halbtönige Versetzungen fast geräuschhaft, sie mündet in einen bruitistischen Höhepunkt.
Das Finale besteht aus einer rezitativischen Einleitung, einem sehr schnellen zu Beginn fugierten Perpetuum mobile und einer Coda, die das anfängliche Rezitativ wieder aufnimmt und die beiden langsamen Sätze zitiert. Solcherart Wiederaufnahme ist eher ein Mittel großer sinfonischer Dispositionen, für dieses relativ kurze Quartett (es dauert insgesamt ca. 16 Minuten) erscheint sie überhöht.
Jeder Satz trägt eine prägnante Physiognomie, ist sehr expressiv und wirksam geschrieben, in den Einzelstimmen und im Zusammenspiel auf einem hohen Schwierigkeitsgrad. Ungewöhnlich ist die formale Gestaltung, vorherrschend ist eine Monothematik, Reprisen erscheinen sehr früh. Das sehr ansprechende musikalische Material hätte eine ausführlichere Verarbeitung vertragen.
Professionelle Streichquartette können mit diesem wirkungsvollen Werk, das trotz Anknüpfung an Schostakowitsch einen eigenen Ton findet, ihr Konzertprogramm bereichern.
Christian Kuntze-Krakau