Béla Bartók

Streichquartett Nr. 5, Urtext

hg. von László Somfai, Zsombor Németh (Mitarbeit) Stimmensatz/Studienpartitur

Rubrik: Rezension
Verlag/Label: G. Henle, München
erschienen in: das Orchester 12/2024 , Seite 69

Die sechs Streichquartette Béla Bartóks sind einer der großen Klassiker der Kammermusik, sowohl im Hinblick auf öffentliche Aufführungen als auch in Bezug auf die große Zahl von hervorragenden Einspielungen. Gemeinsam haben alle Streichquartette des großen Ungarn eine ungeheure musikantische Kraft und einen sehr großen Farbenreichtum. Über einen Zeitraum von gut 30 Jahren entstanden, waren Bartóks Quartette immer moderne, zeitgenössische Musik, deren Fortschrittlichkeit meist sofort erkannt wurde. Dass sie aber auch nach rund einhundert Jahren noch überaus modern und frisch klingen, mag eher an ihrer hohen strukturellen Dichte liegen.
Alle sechs Streichquartette sind äußerst durchdacht konstruiert. Das vorliegende fünfte Streichquartett wird ganz außerordentlich von Symmetrieerwägungen geprägt. Wie das vorausgegangene, rund sechs Jahre früher entstandene vierte ist auch dieses jetzt bei Henle im Urtext erschienene Quartett fünfsätzig. In einer Analyse, die sowohl den Stimmen als auch der Studienpartitur beigegeben ist, zeigt der Komponist auf, wie sich der erste und der Finalsatz (über die Harmonik) und die beiden langsamen Abschnitte (über thematische Abwandlungen) aufeinander beziehen, und weist auf die Funktion des dreiteiligen Scherzo-Mittelsatzes als wiederum in sich symmetrische Achse hin.
Verglichen mit anderen großen Komponisten gehen Struktur und eine unmittelbar zugängliche musikalische Sprache bei Bartók eine möglicherweise noch schlüssigere Verbindung ein. Über die Rolle der Volksmusik, auf die der Komponist auch in diesem fünften Streichquartett, zum Beispiel über den „bulgarischen Rhythmus“ im Mittelsatz, Bezug nimmt, ist viel geschrieben worden; ganz sicher aber ist dieses Werk gänzlich frei von oberflächlicher Folklore und zeigt stattdessen, wie Bartók sauber herausgearbeitete Elemente der Volksmusik in essenzielle Bausteine seiner musikalischen DNA integriert.
Die schlüssige Integration von abstrakter Form und konkretem Klang gelingt Béla Bartók in diesem Streichquartett so hervorragend, dass die vier Streicherstimmen – eine lebendige und technisch versierte Interpretation vorausgesetzt – als Ensemble wahrgenommen werden können. Orchestral wird es dabei vor allem in den tonlich zurückgenommenen, aber auf große Tragfähigkeit setzenden Passagen der langsamen Sätze. Die robusten und dichten Abschnitte, die einen etwas forschen spieltechnischen Zugriff erfordern, werden jedoch ebenso von einer ausgewogenen Balance der beiden Violinen, der Viola und des Cellos und einer gleichermaßen souveränen Beherrschung aller Instrumente profitieren.
Daniel Knödler