Joo, Hyung-ki

Streichquartett Nr. 1 „Tributes“

Studienpartitur

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Universal Edition, Wien
erschienen in: das Orchester 10/2017 , Seite 65

Eine Partitur zu lesen, stellt in vielen Fällen moderner Musik durchaus eine Herausforderung dar. Doch dann gibt es auch zeitgenössische Kompositionen, bei denen der Begriff „Notenbild“ durchaus wörtlich genommen werden kann. Hyung-ki Joos Streichquartett-Erstling ist ein solches Werk. Schon beim Lesen der detaillierten Einführung des Komponisten stellt sich die spannende Frage, wie diese Musik wohl auf dem Notenpapier „aussehen“ mag. Die Tributes genannten sechs Sätze beziehen sich nämlich sowohl auf bekannte Komponisten bzw. deren Werke als auch auf außermusikalische Inhalte – darunter Edvard Munchs berühmtestes Gemälde Der Schrei.
Dieser Schrei ruft natürlich geradezu nach einer klanglichen Umsetzung mit den Mitteln der modernen Musik – laut, dissonant, grell, unangenehm und nervenzerfetzend: von Hyung-ki Joo notiert in einem einzigen langen Takt. Und dennoch ist dieses musikalische Bild in der Partitur nicht das grafisch stärkste. Diese Rolle kommt entweder dem quasi auf eine Seite verdichteten Kopfsatz von Beethovens Fünfter oder der Reminiszenz an Arnold Schönberg (in „ironischem“ C-Dur) zu; ganz abhängig davon, welche Bilder sich beim Lesen des Vorworts schon im Kopf festgesetzt haben.
Gewiss muss man sich die sechs musikalischen Miniaturen, die zusammen auf zehn übersichtliche DIN-A4-Seiten passen, mit der ironischen Distanz eines Musikstudenten denken, dem das akademische Korsett ein klein wenig zu eng zu werden droht. Heute, 27 Jahre nach seinem Hochschulabschluss an der Yehudi Menuhin School in London, für den dieses Streichquartett geschrieben wurde, ist Hyung-ki Joo auch als Musik-Comedian bekannt, dessen geistreiche Späße über YouTube einem größeren Publikum zugänglich sind, der aber immer auf einer sehr soliden musikalischen Ausbildung aufzubauen weiß.
Konstruiert sind die Sätze dieses Streichquartetts jeweils fast ausschließlich um eine einzige Idee herum, die dann prägnant sowie optisch und akustisch ohne Probleme greifbar ausgearbeitet wird. Die technischen Anforderungen an die vier Streicher sind nicht übermäßig hoch – die an die klangliche Tiefenschärfe und den Kontrastreichtum bei der Darstellung allerdings schon. „Brave“ Musik, wie sie ein Streichquartett vielleicht nahelegen mag, scheint Hyung-ki Joo nicht zu schreiben.
Und auch die drei kurzen Referenzen der Komponistenkollegen Giya Kancheli, Vangelis und Hans Zimmer vor dem Vorwort mögen schon einen Eindruck von der großen musikalischen Bandbreite und der Originalität des Engländers mit den südkoreanischen Wurzeln geben. Hyung-ki Joos Tributes, die den so geweckten Erwartungen ohne Zweifel standhalten, sind für ein Publikum geschrieben, das es liebt, Musik zu genießen. Fürs Archiv oder Museum sind sie eher weniger geeignet.
Daniel Knödler