Igor Stravinsky

Stravinsky Ballets

The Firebird/Petrushka/The Rite of Spring London Symphony Orchestra, Ltg. Simon Rattle

Rubrik: Rezension
Verlag/Label: LSO Live
erschienen in: das Orchester 12/2022 , Seite 65

Drei komplette Ballettmusiken von Igor Strawinsky an einem Konzertabend zu spielen – gehört dazu im 21. Jahrhundert noch Mut? Sir Simon Rattle meint ja, aber wohl weniger aufgrund einer womöglichen ästhetischen Zumutung für das Live-Publikum im Londoner Barbican Center am 21. September 2017 – Rattles offiziellem Amtsantritt als Musikdirektor des London Symphony Orchestra –, sondern eher wegen des immensen künstlerischen und ja, auch konditionellen Anspruchs an die beteiligten Instrumentalist:innen. Ganz im Sinn von Stravinsky – und hiervon zeugt der vorliegende Mitschnitt dieses denkwürdigen Abends (und des damit kompilierten nachfolgenden Konzerts am 24. September 2017) auf zwei Silberscheiben in eindringlicher Weise – macht Rattle keinerlei Kompromisse hinsichtlich Temporückungen, extremer Dynamik und klanglicher Intensität. So detailverliebt – besser: versessen – werden einem Feuervogel, Petruschka und Le Sacre du printemps kaum je wieder als Live-Ereignis begegnen. Ob auf Platte oder tatsächlich im Konzertsaal.
Freilich wollte Strawinsky alle seine Ballettpartituren auch als eigenständige Musik verstanden wissen. Von diesem „absoluten“ künstlerischen Ansatz scheint Rattle voll und ganz auszugehen. Auch wenn er als „Ballettdirigent“ durchaus Erfahrung hat, wovon der Film Rhythm Is It! von 2004 eindrucksvoll Zeugnis ablegt. Es darf allerdings nicht vergessen werden, dass Strawinsky die hier vorliegenden Werke zuerst als eine Art „akustische Anregungs- wie Begleitmusik“ für die Tänzerinnen und Tänzer der legendären Ballets Russes geschaffen hat. Doch der Komponist unterlief diese – wohl allgemeine wie professionelle – Erwartungshaltung, indem er ein so starkes wie eigenständiges akustisches Artefakt erzeugte, dass die tänzerische Linie keine Ergänzung im Sinne einer Melodiebildung zum orchestralen Humtata der Belcanto-Oper des
19. Jahrhunderts mehr darstellte, sondern sich alle Akteur:innen an Energie und Kraft dieser Musik messen lassen bzw. abarbeiten mussten.
Nach Anhören beider CDs kann konstatiert werden, dass Feuervogel und Le Sacre du printemps vom London Symphony Orchestra unter Rattle unerbittlich-rhythmisch-virtuos sowie Petruschka mit dem nötigen eleganten Klassizismus interpretiert werden. Dabei geraten weder der Strawinsky-typische apollinische Schönklang noch die großen Strukturbögen je aus dem Fokus. Gerade die Vision einer besseren – ganz aktuell: russischen? – Welt als Apotheose ganz am Schluss von Feuervogel baut Rattle zu Recht als ein riesiges, ungetrübtes Crescendo auf. Wenn man sich dazu noch den wunderbaren Schlussvorhang von Natalia Gontscharowa von 1926 denkt, der sich im Londoner Victoria and Albert Museum erhalten hat, kommt man der Vorstellung vom tänzerisch-musikalischen Gesamtkunstwerk nahe, das Sergei Diaghilev, der Impresario der Ballets Russes, und Igor Strawinsky als erster Hauskomponist dieser revolutionären Tanztruppe ausgeheckt haben.
Vesna Mlakar