Michael Lemster
Strauss
Eine Wiener Familie revolutioniert die Musikwelt
Im 19. Jahrhundert vollzog sich die Trennung in die Ernste und die Unterhaltungsmusik. Maßgeblichen Anteil daran hatte die Strauss-Familie, die in Wien ein international ausstrahlendes Walzerimperium errichtete. War das die Revolution, die Michael Lemster in seinem Buch mit dem Untertitel „Eine Wiener Familie revolutioniert die Musikwelt“ meint? Revolutionär neue Musik komponierten jedenfalls damals andere, etwa Richard Wagner, Franz Liszt oder der junge Richard Strauss. Lemster denkt an eine andere Revolution: Er beschreibt in seinem Buch, wie erstmals in der Musikgeschichte durch Johann Strauss und seine Söhne Johann, Josef und Eduard populäre Musik so vermarktet wurde, dass sie ein großes, internationales Massenpublikum erreichte.
Lemsters Buch ist eine breit angelegte, facettenreiche Kulturgeschichte in den Fußstapfen eines Egon Friedell. Man kann sie so süffig wie einen Roman lesen. Sie bietet Einblicke in Familienintrigen, erotische Eskapaden, wirtschaftliche Abgründe und den Aufstieg zu immensem Reichtum. Dieser soziale Aufstieg vom armen Waisen Johann Strauss zu seinem gleichnamigen Sohn, der wie ein Fürst in Bad Ischl residierte, ist enorm, durchaus vergleichbar mit Popstars unserer Zeit.
Der Leser erfährt viele spannende Details, etwa dass Johann Strauss Jude war und Goebbels diese Abstammung zur Geheimsache erklärte, damit diese, wie die Nazis glaubten, „deutsche“ Musik weiter aufgeführt werden konnte. Es ist eine große Stärke dieses Buchs, dass es die Geschichte der Strauss-Familie im Kontext eines weit gefächerten Zeitpanoramas beschreibt: Wiener Kongress, die Restauration unter Metternich, die Revolution 1848/1849, technische Neuerungen, insbesondere die Eisenbahn und das Dampfschiff oder die zunehmende Bedeutung der Presse, die einen wesentlichen Anteil daran hatte, dass Musiker:innen zu Stars wurden. Lemster zeigt, wie das Unterhaltungsgeschäft funktionierte, beschreibt die Spielhäuser – Kaffeehäuser, Biergärten, Gaststätten –, verfolgt, wie Musiker für die Kapellen engagiert wurden, charakterisiert die mitreißende Dirigierweise von Vater Strauss und seinen Söhnen, zeigt, wie kostspielige Feste inszeniert wurden und wie Tourneen das Strauss-Orchester in ganz Europa und in den USA berühmt machten. Doch Lemsters Buch ist kein Buch über die Musik selbst. Das wird vor allem im Kapitel über die Operetten deutlich. Wie sich Popularität in der Musik widerspiegelt, was sie für die musikalische Komposition bedeutet, was die so komponierte Musik von der sogenannten Ernsten Musik unterscheidet, diese Fragen bleiben offen.
Schlussfazit: ein unterhaltsames Buch, schön gedruckt, mit vielen Bildern, ein Lesevergnügen und auch bestens als Geschenk für Strauss-Liebhaber geeignet.
Franzpeter Messmer