Ekkehard Ochs

Stralsund: Hochdramatisch und beklemmend emotional

Verdis „La Traviata“ am Theater Vorpommern geht unter die Haut

Rubrik: Bericht
erschienen in: das Orchester 03/2023 , Seite 51

Coronabedingt schon einmal verschoben, hat sie nun am 3. November am Theater Vorpommern in Stralsund stattgefunden: die Premiere von Verdis La Traviata. Und da sich der kurzzeitig drohende stimmliche Totalausfall der Violetta nicht nur nicht einstellte, sondern die Protagonistin mit gewaltiger Energieleistung und dem Glück der Tüchtigen samt komplettem Ensemble zu großer Form auflief, geriet der Abend zu einem vor allem musikalisch großartigen, auch ambitionierteste Vergleiche aushaltenden Ereignis.
Das Haus ausverkauft, der Beifall stürmisch! Ob der auch der Inszenierung Sandra Leupolds galt? Ausschließen wollen wir das nicht. Die Regisseurin hat sich im Programmheft ausführlich zu ihrer Sicht auf Komponist, Werk, Wirkung und Wiedergabe geäußert. Sie hat Historisches herangezogen, auf seinerzeit (1853) Realisiertes verwiesen, eine Geschichte – wie sie meint – hartnäckiger „Verfälschungen“ nachgezeichnet und über heute (noch!) Mögliches nachgedacht. Lesens- und bedenkenswert dies alles. Unklarheiten aber bleiben. Nach „Neuem“ suche sie nicht. Es ergäbe sich – seriöse Analyse des Werkes vorausgesetzt – ohnehin nur auf Grundlage eigener Fantasie(!). Im Übrigen sollten wir uns „verpflichtet fühlen, Verdis Anliegen der Aktualität, der Zeitgenossenschaft zu transportieren“. Nun gut, aber wie? Es gelte, das „alte Stück neu zusammenzubauen aus Chiffren, die im Zuschauerraum als ‚zeitgenössisch‘ gelesen werden“ können und damit „Nähe schaffen“. Auch gut, aber wie? Ungewohnt auch eine Sicht auf Violetta, die dezidiert (nur) als „Bühnenfigur“ gesehen wird. Gibt es eine andere, zweite? Und wie kann man das alles realisieren?
In dieser Inszenierung trifft stärkste Reduzierung des visuell Wahrnehmbaren auf denkbar konzentrierte Intensivierung des Gefühlhaften im Musikalischen. Die Bühne (Jochen Hochfeld) ist schwarz ausgeschlagen und bleibt völlig leer. Feiernde Gesellschaften existieren fast nur im marschartig auf sich drehender Bühne agierenden, kompakten Block – oder im Hintergrund, als in Zeitlupe erotisch agierende Gruppe. Welche zeitliche Verortung ist da möglich? Die drei Protagonist:innen beherrschen Weite und Leere der Bühne mit nicht immer verständlichen Bewegungsabläufen nahezu allein. Die Liebesbeziehung Violetta – Alfredo kennt dabei keine körperliche Nähe. Im Finale verbleibt Erstere allein auf der Bühne und ihr langsames Verschwinden im Bühnenboden wird von den Beteiligten nur aus dem Zuschauerraum beobachtet. Fazit dennoch: ein gewaltiges, höchst individuell geprägtes Musikdrama ganz aus dem Inneren heraus, eine Intimität, die ohne sonst sichtbares Umfeld an gefühlshafter Brisanz und damit an Aussage zu gewinnen vermag. Leupolds Einlassungen (siehe oben) sind da erst einmal schnell weit weg; Nachlesen aber empfohlen.
Wie angedeutet, war der Abend vor allem musikalisch ein starkes Erlebnis: Sängerisch wie gestalterisch unter die Haut gehen Katharina Cons­tanti (Violetta), Costa Latsos (Alfredo) und Maciej Kozłowski (Giorgio Germont) – sie alle von beeindruckender Präsenz und musikalischer Souveränität. Nicht weniger kompetent agieren in kleineren Rollen Claudia Scheiner (Flora), Kristina Herbst (Annina), Semjon Bulinsky (Gastone), Thomas Rettensteiner (Baron), Joehwan Shim (Marquis) und Jovan Koščica (Doktor). Die Chöre waren, wie immer, ausgezeichnet vorbereitet (Csaba Grünfelder). Glanzpunkt im Instrumentalen: das Philharmonische Orchester Vorpommern unter GMD Florian Csizmadia; Garant für das, was man wahrhaftigen Ausdruck nennt, zwingend in allen Gefühlsbereichen, ohne jede populistische Attitüde, hin- und mitreißend im Furor menschlich stärkster, berührendster Affekte.