Bettina Hölscher

Steinharte Auslese

Orchestermusiker zwischen Studium und Beruf

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: das Orchester 02/2002 , Seite 02

Bettina Hölscher hat in Freiburg Schulmusik und Germanistik studiert, im Anschluss daran Rundfunk-Musikjournalismus in Karlsruhe. Der folgende Artikel basiert auf einem einstündigen Radio-Feature.

Deutschland – Musikland!

Auf der ganzen Welt ist Deutschland berühmt für seine hoch stehende Musikkultur. Angefangen von Aushängeschildern wie den Berliner Philharmonikern oder den großen Rundfunksinfonieorchestern bis hin zu den kleinen Theatern, die auch den Kulturfans außerhalb der Großstädte den Opernbesuch ganz in der Nähe ermöglichen, oder den vielen freien Ensembles, die sich speziellen Musikrichtungen widmen – das weite Spektrum lässt keine Wünsche offen. Eine wichtige Grundlage für dieses reichhaltige Musikleben bildet die qualifizierte Ausbildung des Nachwuchses an den zahlreichen deutschen Musikhochschulen.

Die Orchester haben die Auswahl
 

Deutschland – Traumland für junge angehende Orchestermusiker? Über das rosige Bild blühender Musiklandschaften senkt sich der graue Schatten einzelner drohender oder schon vollzogener Schließungen oder Fusionen von Orchestern. Für die Musiker bedeutet das einen immer härteren Konkurrenzkampf um immer weniger freie Stellen. Alfred Rinderspacher, Beauftragter der DOV für Hochschul- und Ausbildungsfragen und Professor für Fagott an der Musikhochschule Mannheim, hat die Situation über Jahrzehnte verfolgt: “In den Sechzigerjahren gab es einen eklatanten Nachwuchsmangel, so dass über fünfzig Prozent ausländische Musiker engagiert werden mussten, um die Stellen zu besetzen und die Orchester spielfähig zu erhalten. Heute ist es umgekehrt: Es herrscht ein Überangebot. Die Ansprüche bei den Probespielen sind in den letzten vierzig Jahren stark gewachsen und die Qualitätsansprüche der Orchester sind sehr hoch. Die Orchester haben natürlich auch die Auswahl, denn im Schnitt bewerben sich sechzig bis achtzig Musiker um eine Stelle; manchmal, wie z. B. bei einer Tutti-Cellostelle beim Orchester des WDR, gehen sogar dreihundert Bewerbungen ein.” In dieser Situation müssen sich die jungen Musiker erst einmal zurechtfinden. Gegen Ende des Studiums beginnt die Zeit der Wahrheit. Stellenausschreibungen lesen und Bewerbungen schreiben – zunächst für Praktikantenstellen oder Zeitverträge, aber auch bereits für feste Stellen. Und hier liegt schon der erste Stolperstein auf dem Weg, denn zum Probespiel eingeladen zu werden ist keine Selbstverständlichkeit. Die Instrumentengruppe, in der die Stelle zu besetzen ist, trifft anhand der Bewerbungsunterlagen eine Vorauswahl. Alfred Rinderspacher nennt als wesentliche Kriterien dieser Auswahl das Alter der Bewerber, in welchem Orchester sie bereits tätig sind oder – bei Berufsanfängern – aus welchem “guten Haus” sie kommen, also wo sie studiert haben und ob sie z. B. durch ein Praktikum schon Orchestererfahrung vorweisen können. Besonders die Frage nach dem Alter erscheint in sozialer Hinsicht problematisch: Denn wer dreißig Jahre alt ist und noch keine Stelle hat, hat bei dieser Vorauswahl häufig schon schlechte Karten. So bezeichnet es Alfred Rinderspacher als “Glücksfall” für denjenigen, der zu den ungefähr fünfzehn Eingeladenen unter 80, 100 oder noch mehr Bewerbern gehört.

Die Auswahlkriterien, nach denen über die Bewerbung entschieden wird, stecken nur einen sehr weiten Rahmen ab, der viel Spielraum für die persönlichen Maßstäbe der Auswählenden lässt. Häufig haben Studenten von Hochschullehrern, die selbst in Spitzenorchestern tätig sind oder waren, bessere Chancen eine Einladung zu erhalten, weil man von ihnen eine bestimmte Art zu spielen erwartet. Außerdem fließen bis zu einem gewissen Grad persönliche Sympathien und Antipathien in die Entscheidung mit ein, auch wenn die Auswahl von mehreren Personen im gegenseitigen Meinungsaustausch getroffen wird. Welcher Stimmführer würde nicht dazu neigen, den Studenten seines ehemaligen Hochschullehrers einen kleinen Vertrauensvorschuss zu gewähren und andere, die bei einem Lehrer studiert haben, dessen Spielweise nicht den eigenen Vorstellungen entspricht, eher hintan zu stellen? Ein gewisser Einfluss dieser persönlichen Faktoren lässt sich kaum vermeiden, doch ist es für die Studierenden im Fach Orchestermusik wichtig, sich schon zu Beginn ihres Studiums darüber bewusst zu sein, wie ausschlaggebend die Wahl des Professors für den späteren Erfolg sein kann.

Trotzdem gibt es immer wieder Fälle, in denen es für die Bewerber nicht nachvollziehbar ist, warum sie zu einem bestimmten Probespiel keine Einladung erhalten haben. Die Klarinettistin Nicole Dantrimont hat ein Jahr in einem Theater-Orchester als Praktikantin gespielt. Obwohl die Kollegen während dieser Zeit mit ihrer Arbeit zufrieden waren, erhält sie ein Jahr später nicht einmal eine Einladung zum Vorprobespiel, zu dem dreißig Studenten kommen dürfen. “Da frage ich mich schon, was das eigentlich soll”, meint Nicole Dantrimont dazu, “und ob ich mir das antun muss, Bewerbungen zu schicken, die dann doch keinen interessieren.”

Das Probespiel

Fünfzehn Musiker im selben Raum, alle sind Flötisten. Anspannung liegt in der Luft. Aus der linken Ecke des Raumes immer der gleiche Triller, wieder und wieder. Von rechts Tonleitern auf und ab, die sich wie Girlanden um die ausgehaltenen Töne von der anderen Seite des Raumes schlingen. Phrasen aus Mozarts Flötenkonzert in G-Dur mischen sich mit kurzen Passagen aus Beethovens Leonoren-Ouvertüre, Mendelssohns Ouvertüre zum Sommernachtstraum und der ersten Sinfonie von Johannes Brahms. Was für zufällig Vorbeigehende wie eine gewagte Collage klingt, dient den Musikern zum Anwärmen der Technik und zum Abbauen der Nervosität: In wenigen Minuten beginnt ein Probespiel. “Probespiel ist die Überprüfung der Qualität eines Musikers”, erklärt Alfred Rinderspacher. “Vielleicht war man früher nicht ganz so genau. Wenn ein Kollege bereits ein Jahr im Orchester ausgeholfen hat und im Tutti gespielt hat, hat man ihn genommen. Das geht heute nicht mehr. Heute ist ein Probespiel die absolute Notwendigkeit, um in ein Orchester einzutreten.” Mindestens ein Solo-Konzert – bei den meisten Instrumenten aus der klassischen Epoche – und eine Auswahl heikler Passagen aus der Orchesterliteratur werden in drei oder mehr Durchgängen abgeprüft. Um ein möglichst objektives Verfahren zu gewährleisten, wird zwischen den einzelnen Runden von den Mitgliedern des Orchesters nach Mehrheitsprinzip über die Kandidaten abgestimmt. Der erste Durchgang findet außerdem häufig hinter einem Vorhang statt. Ob diese Maßnahmen tatsächlich eine Chancengleichheit aller Kandidaten gewährleisten, erscheint zumindest fragwürdig. Bei Bläsern lässt sich beispielsweise häufig am Atemgeräusch hören, ob gerade eine Frau oder ein Mann spielt. Manche Orchestermitglieder, denen das Probespiel nicht so wichtig ist, weil es ihre Stimmgruppe nicht direkt betrifft, verzichten darauf, sich während des ersten Durchgangs Notizen zu den einzelnen Teilnehmern zu machen. Da mag es dann bei der Abstimmung schon besonders schwierig sein zu beurteilen, ob Nummer neun tatsächlich besser gespielt hat als Nummer vier.

Es gibt auch Fälle – zum Glück wohl eher Ausnahmen -, in denen die Anonymität des Vorhangs bewusst durchbrochen wird: Wenn zum Beispiel die Studenten eines bestimmten Professors an der besonderen Gestaltung der Verzierungen zu erkennen sind. Ob sie durch einen Fürsprecher in der Stimmgruppe dann tatsächlich Vorteile in der Gesamtbewertung durch das Orchester haben, bleibt eine offene Frage. Deutlich wird aber an diesen Beispielen, dass es von der Einstellung aller Beteiligten abhängt, ob ein Probespiel regulär verläuft. Das gilt auch für die sorgfältige Organisation des Probespiels seitens der Stimmgruppe. Dazu gehört unter anderem, dem Korrepetitor die zu begleitenden Pflichtstücke rechtzeitig zum Üben auszuhändigen und den Klavierstimmer zu bestellen. Bei den meisten Orchestern ist das eine Selbstverständlichkeit, doch Probespielteilnehmer berichten immer wieder von gegenteiligen Erfahrungen. Selbst wenn sich das Orchester bemüht hat, die besten Voraussetzungen für die Kandidaten zu schaffen, bleibt das Vorspielen bei einem Probespiel eine außerordentliche psychische Belastung. Gerade die erste Runde wird von den Teilnehmern häufig als besonders unangenehm empfunden, da in vielen Probespielen schnell abgebrochen wird, man also gar nicht die Chance hat, die Nerven etwas zur Ruhe kommen zu lassen. “Es ist einfach eine Extremsituation”, beschreibt die Flötistin Karin Schweigart-Hilario ihre Erfahrungen, “weil man so alleine ist, wie sonst nie in seinem ganzen Leben. Man steht vor einem ganzen Orchester, vor Musikern, die alle ihre Vorstellung haben, wie es klingen soll. Es ist einfach eine völlig andere Situation, als wenn man vor einem Publikum spielt, das man durch die Musik verzaubern will. Das gelingt viel leichter, weil sich die Leute fesseln lassen durch gewisse Tricks und gewisse musikalische Raffinessen, aber die Orchestermusiker durchschauen das ja alles. Man kann so daneben liegen – deshalb hat man schon ziemlich viel Angst vor so einer Situation.” “Nie wieder!”, war die Reaktion von Nicole Dantrimont nach ihrem ersten Probespiel. Im Laufe der Zeit hat sie dann mit Hilfe von autogenem Training gelernt, besser mit der Situation umzugehen. Manche Hochschulen haben bereits die Notwendigkeit erkannt, ihre Studenten psychologisch auf Probespiele vorzubereiten. Eine Möglichkeit sind zum Beispiel Kurse für Mentales Training, wie sie an der Würzburger Hochschule für Musik von Ulrike Klees angeboten werden. Durch intensives Imaginieren der Situation versucht Ulrike Klees mit ihren Studenten schon im Vorhinein zu üben, mit dem Adrenalinschub umzugehen und Handlungsalternativen zum “Panikverhalten” zu entwickeln.

Worauf bei der Beurteilung der Kandidaten besonders geachtet wird, beschreibt Dirk Altmann, Solo-Klarinettist und Orchestervorstand beim SWR Radio-Sinfonieorchester Stuttgart: “Das Wichtigste, das jemanden letztendlich über seine Mitbewerber stellt, ist Charisma und besonderer Gestaltungswille. Man kann sich natürlich unendlich über die Interpretation eines Mozart-Konzertes streiten. Wenn dann hundert Leute dasitzen, ist das absolut erschöpfend – das kann man nicht ausdiskutieren. Aber wenn jemand überzeugend und vor allem auch variabel und flexibel sein Instrument dazu nutzt, seine musikalische Vorstellung zu vermitteln, dann ist das schon sehr viel und wird auch honoriert. Da hat man gute Chancen, in die nächsten Runden weiterzukommen. Je mehr dann das Probespiel fortschreitet, umso wichtiger ist im Rundfunkorchester auch Perfektion.” Doch nicht jede in sich schlüssige Interpretation – gerade der klassischen Konzerte – ist im Probespiel gleich erfolgreich. “Ich hatte eine völlig andere Vorstellung von einem Mozart-Konzert als beim Probespiel wirklich verlangt wird”, erinnert sich der Geiger Michael Dinnebier, Stimmführer der Zweiten Violinen beim SWR-Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg. “Ich hatte die Vorstellung von einer an die historische Aufführungspraxis angelehnten Interpretation mit wenig Vibrato und einer einfachen Kadenz. Dann habe ich aber schnell gemerkt, dass der Geschmack im Orchester in eine ganz andere Richtung geht und dass ich mit dieser leichtfüßigen Interpretation keine Chance habe, überhaupt auf der anderen Seite vom Vorhang gehört zu werden. Ich musste aggressiver spielen, mich mit einem intensiveren Vibrato durchsetzen und eine virtuose Kadenz aussuchen.”

Problematik der Orchesterausbildung

Anhand solcher Erfahrungen wird deutlich, dass die Frage, wie ein Solokonzert in einem Probespiel zu klingen hat, im Instrumentalunterricht an der Hochschule manchmal vernachlässigt wird. Es hängt vom Interesse und den Fähigkeiten der Professoren ab, ob sie bereit und überhaupt in der Lage sind, ihren Studenten konkrete Hilfen mit auf den Weg zu geben. Vielen Professoren liegt die künstlerische Ausbildung ihrer Studenten sehr am Herzen, die Vorbereitung auf Probespiele empfinden sie dagegen eher als lästige Pflicht. Seitens der Orchester führt das häufig zu Klagen über das ihrer Ansicht nach zu niedrige Niveau bei den Probespielen. Alfred Rinderspacher kennt diese Vorwürfe: “Was die Kollegen immer wieder berichten ist, dass instrumental-künstlerisch sehr gut ausgebildet wird, dass aber hauptsächlich im Streicherbereich die praxisbezogene Ausbildung, d. h. Orchesterstellen, immer noch vernachlässigt wird.” Häufig seien beim Probespiel sehr gute Geiger da, die die Konzerte von Mozart und Brahms fabelhaft spielten, aber dann an den Standard-Orchesterstellen wie der Verkauften Braut scheiterten, was den Abbruch des Probespiels zur Folge habe. “Insofern ist auf der einen Seite vielleicht ein zu hoher Anspruch, auf der anderen Seite wird dieser Anspruch wiederum auch nicht erfüllt”, meint Alfred Rinderspacher. Genau an diesem Punkt zeigt sich eine Unstimmigkeit zwischen dem Selbstverständnis der Hochschulen und den Erwartungen der Orchester an die Absolventen. “Ich bilde gerne Musiker aus und nicht Automaten, die fehlerlos ihre Stellen spielen können”, fasst Mirjam Nastasi, Professorin für Flöte und Rektorin der Musikhochschule in Freiburg und Vorsitzende der Konferenz der deutschen Musikhochschuldirektoren, ihren Standpunkt zusammen. Sie hat aber auch in ihrer eigenen Unterrichtstätigkeit festgestellt, dass zum Erfolg im Probespiel ein “regelrechtes sportliches Training” gehört. “Dann muss wirklich jemand Tag und Nacht sein Mozart-Konzert fehlerlos spielen können und die Orchesterstellen müssen vorwärts und rückwärts trainiert werden.” Doch sieht sie darin eine große Gefahr: dass nur noch eine bestimmte Version eines Musikstücks gepaukt wird – statt die Entwicklung des Studenten zu einer künstlerischen Persönlichkeit zu fördern, die gelernt hat, sich ihre eigene Interpretation zu erarbeiten. Die Erwartungshaltung der Orchester findet Mirjam Nastasi problematisch. “Ich denke, bei den Orchestern besteht manchmal die Einstellung, dass sie fertige Orchestermusiker bekommen sollen, wenn sie Probespiele veranstalten. Es gibt Leute, die die Anlagen dafür mitbringen, aber ich glaube kaum, dass alle von vornherein Top-Orchestermusiker sind. Sie werden es vielleicht. Man muss sehen, dass da jemand spielt, der zwar noch unerfahren ist – aber die Erfahrung kommt schnell. Man darf nicht ein fertiges Produkt von dem Studenten erwarten.”

Die jungen Musiker müssen sich häufig zwischen diesen verschiedenen Ansprüchen und Erwartungen ihren eigenen Weg bahnen. Gerade beim Üben der Orchesterstellen fühlen sich viele unsicher, weil sie nicht wissen, worauf es bei den einzelnen Stellen ankommt. Manche, wie Michael Dinnebier, versuchen sich selbst weiterzubringen, indem sie sich Aufnahmen besorgen und damit versuchen, sich eine Vorstellung zu verschaffen. Oder sie nehmen die Möglichkeit wahr, bei Instrumentalisten der renommierten Orchester Privatunterricht zu nehmen oder Kurse zu besuchen. Damit ist kein geringer finanzieller Aufwand verbunden – und zwei Wochen mit noch so intensivem Kursangebot können zwar den Weg in die richtige Richtung weisen, sind aber nicht vergleichbar mit einer kontinuierlichen Arbeit über einen längeren Zeitraum.

Mehr und mehr nehmen die Orchester die Ausbildung ihres Nachwuchses im Rahmen von Akademien selbst in die Hand. Die Zielgruppe sind vor allem junge Studienabsolventen, die nun für die Arbeit im Orchester noch den letzten Schliff bekommen sollen. Sie erhalten dafür immerhin auch ein kleines Gehalt. Im Vergleich zum Praktikum hat die Akademie den Vorteil, dass sie über die Orchestererfahrung hinaus noch Unterricht bei einem Kollegen aus dem Orchester bietet. Doch sowohl für Praktika wie auch für Akademieplätze muss wie bei einem festen Platz im Orchester ein Probespiel absolviert werden, wobei die Anzahl der Akademieplätze geringer ist als die der Praktikantenstellen und die Altersbeschränkung im Allgemeinen niedriger liegt. So gut die Chancen später auf dem Markt für diejenigen sind, die einen Akademieplatz bekommen haben, so vergrößert sich möglicherweise auch die Gefahr der Abwertung der Ausbildung an den Hochschulen. Wenn diese Tendenz stark zunehmen sollte, reicht vielleicht in Zukunft ein reines Hochschulstudium nicht mehr aus, um als Musiker, zumindest was die Spitzenpositionen betrifft, für die Orchester interessant zu sein.

Eine “steinharte Auslese” und nichts Besseres in Sicht?

Vielleicht müssten die Orchester auch darüber nachdenken, wie sie das Auswahlverfahren in Hinblick auf ihre Ansprüche optimieren können, denn die Praxis der Probespiele hat sich in Deutschland kaum verändert, seit es überhaupt Probespiele gibt. “Es ist eine ganz harte, wirklich steinharte Auslese”, sagt Alfred Rinderspacher, “aber mir fällt nichts Besseres ein. Soll es der Dirigent bestimmen? Soll es ein Politiker bestimmen? Wer soll bestimmen, welcher Musiker ins Orchester aufgenommen wird? Dieser Frage geht man natürlich aus dem Weg, indem man sagt, die demokratische Mehrheit entscheidet, wer ins Orchester kommt.” An einem geregelten Auswahlverfahren für die Neubesetzung von Stellen führt kein Weg vorbei. Doch mit dem Verweis auf jene demokratische Mehrheitsentscheidung wollen die Orchester häufig dem Verfahren eine Objektivität zusprechen, die es nicht haben kann. Es gibt nicht den objektiv besten Musiker, sondern derjenige gewinnt im besten Fall die Stelle, der in einer intersubjektiven Meinungsfindung dem Geschmack des Orchesters am ehesten entspricht. Wenn aber tatsächlich das Ziel des Probespiels darin besteht, den geeignetsten Musiker für eine bestimmte Stelle in einem bestimmten Orchester zu finden, dann stellt sich schon die Frage, ob das Probespiel-Verfahren, so wie es im Moment gehandhabt wird, bereits eine optimale Lösung darstellt.

Die Problematik, die mit einem klassischen Solo-Konzert als Pflichtstück in der ersten Runde verbunden ist, klang bereits an. Antony Plog, Professor für Trompete an der Musikhochschule in Freiburg, weist darüber hinaus auf eine besondere Schwierigkeit bei seinem Instrument hin: “In Deutschland wird in der ersten Runde das Konzert für Trompete und Orchester von Haydn mit deutscher Trompete verlangt. In Amerika stehen dagegen eher ein Konzert freier Wahl und schon einige Orchesterstellen auf dem Programm der ersten Runde. Für mich ist das Problem, wenn nur Haydn gefordert wird, dass dieses Konzert mit der deutschen Trompete oft nicht so gut gelingt. Als Solist wählt man für Haydn die Es-Trompete, mit der man eleganter spielen kann. Man muss also ein Stück spielen, das auf der deutschen Trompete sehr schwer ist, in einem Stil, der für Haydn nicht korrekt ist. Meine Meinung ist, dass deshalb viele sehr gute Kandidaten in der ersten Runde nicht weiterkommen.” Selbst wenn das Problem des geeigneten Instruments hier verschärfend hinzukommt – der Zwiespalt zwischen einer stilgetreuen Interpretation und einer “Probespielfassung” besteht auch bei anderen Instrumenten. So liegt es nicht fern darüber nachzudenken, ob das Repertoire in der ersten Runde nicht erweitert werden sollte. Für Probespiele um Trompetenstellen hat Antony Plog konkrete Vorstellungen: “Meine Meinung ist, dass man vielleicht vier oder fünf verschiedene Stücke verlangen könnte, von denen jedes eine andere Schwierigkeit besitzt; z. B. bei den Trompeten ’Pini di Roma’ als lyrische Stelle, die 5. Sinfonie von Mahler für den dramatischen Gestus und Rhythmus, dann vielleicht die ’Promenade’ aus den ,Bildern einer Ausstellung’ für Klang und Phrasierung und für die Technik zum Beispiel Ravels Klavierkonzert, dazu in der ersten Runde Haydn-Konzert.” Da das Programm umfangreicher ist, würde die erste Ausscheidung länger dauern als bisher. Aber die investierte Zeit kann sich auszahlen, da sich das Orchester schon in der ersten Runde ein kompletteres Bild von den Bewerbern machen kann und damit die Wahrscheinlichkeit, dass erst in der dritten Runde die mangelnde Qualifikation der Musiker bei den Probespielstellen auffällt und zum Abbruch des Verfahrens führt, als deutlich geringer einzuschätzen ist.

Den weiteren Verlauf des Probespiels könnte sich Antony Plog dann folgendermaßen vorstellen: “In der zweiten Runde könnten dann etwas kompliziertere Orchesterstellen abgefragt werden, und in der dritten Runde könnte der Bewerber dann mit der Trompetengruppe zusammen spielen.” Ob ein Musiker gut intonieren kann, lässt sich mit einer solchen Praxis, wie sie in fast allen großen Orchestern der USA üblich ist, viel besser überprüfen, als wenn der Bewerber alleine seine Stellen spielen muss. Gleiches gilt für die Beurteilung seiner Klangfarbe. Mischt sich der Klang gut mit der Gruppe? Kann der Bewerber auf einer Solo-Position führen oder sich im Tutti einfügen und mitspielen? Gerade dies sind doch entscheidende Fragen, die darüber bestimmen, ob der Musiker dann im Orchester erfolgreich arbeiten kann. Daher sollte die Flexibilität eines Musikers als Bewertungskriterium viel größeres Gewicht erhalten. Bei Streichern könnte man in einer der letzten Runden zum Beispiel einen Ausschnitt aus einem Streichquartett-Satz verlangen, der dann mit Mitgliedern des Orchesters zusammen gespielt werden muss. In Italien beispielsweise gehört dieser Punkt zum Probespiel-Programm vieler Orchester. Eine gute Möglichkeit, die besten Kandidaten näher zu überprüfen, kann auch eine Einladung zu Proben und Konzerten sein. Gerade kleinere Orchester stoßen dabei jedoch häufig an finanzielle Grenzen. Aber auch hier lohnt sich ein Kosten-Nutzen-Vergleich, insbesondere wenn es um die Neubesetzung führender Positionen geht.

Freie Ensembles als Vorbild

Anregungen zu einer umfassenderen Gestaltung der Probespiele können auch von den freien Ensembles ausgehen. Die meisten dieser Ensembles können sich deshalb auf dem Markt halten, weil sie sich mit einem speziellen Repertoire profilieren. Dass jeder einzelne Musiker hinter dem organisatorischen und künstlerischen Gesamtkonzept steht, ist dabei besonders wichtig. Aus dieser Erfahrung heraus übt Ulf Werner, der selbst als Geiger in verschiedenen Orchestern tätig war, bevor er die Geschäftsleitung beim ensemble resonanz übernahm, an der Praxis der Probespiele Kritik: “Man hat bei den Probespielen in der ersten Runde vielleicht zwei, drei Minuten, um sich vorzustellen. Es wird kein Bewerbungsgespräch geführt, wie das in anderen Berufen der Fall ist, in dem man nach der Motivation eines Menschen fragt – warum er sich für dieses Orchester interessiert, welche Vorstellungen er mitbringt und welche Perspektiven ihm dieses Orchester bieten kann. Man muss sich auch für die Persönlichkeit eines Musikers interessieren.” Beim ensemble resonanz gibt es keine Probespiele im engeren Sinne. Die Mitglieder des Ensembles laden in Absprache untereinander Musiker, die sie schon kennen und von denen sie sich vorstellen können, dass sie ins Ensemble passen, zunächst zu einem Projekt ein. “Wenn wir zusammenkommen und unsere Projekte erarbeiten, leben und arbeiten wir zusammen”, erzählt Ulf Werner. “Dadurch hat man ganz andere Möglichkeiten, nicht nur den Musiker, sondern auch den Menschen kennen zu lernen – ob er an den Strukturen des Ensembles interessiert ist, ob er sich einbringt und etwas bewegen will. Das sind ganz wichtige Faktoren neben dem instrumentaltechnischen Können, das ganz selbstverständlich auch verlangt wird, das aber nicht die einzige Rolle spielt, um jemanden zu engagieren.” Diese Verfahrensweise lässt sich so für die konventionellen Theater- und Sinfonieorchester natürlich nicht übernehmen. Dafür sind die Organisationsstrukturen zu unterschiedlich.

Nun kann man aber einmal darüber nachdenken, wohin die Entwicklung in der Orchesterlandschaft gehen wird. Eine denkbare Variante wäre, dass sich auch die Theater- und Sinfonieorchester durch ein bestimmtes Repertoire oder durch andere besondere Angebote zunehmend profilieren müssen. Ihre Existenz allein wird als Daseinsberechtigung und damit als wesentliche Anspruchgrundlage für Subventionen möglicherweise nicht mehr ausreichen. Zunehmend wichtig wird dabei möglicherweise sein, dass Impulse nicht nur von Intendanz und künstlerischer Leitung ausgehen, sondern auch von den Orchestermusikern selbst, und dass die Konzepte von einer breiten Mehrheit im Orchester getragen werden. Die unterschiedlichen Interessen und Fähigkeiten, die die Musiker über die Qualifikation für ihre Stelle hinaus mitbringen, sollten als wertvolles Potenzial verstanden und genutzt werden, soweit das noch nicht geschieht. Das würde auch bedeuten, bei der Stellenbesetzung stärker auf die Vielseitigkeit und die Persönlichkeit eines Musikers zu achten, so wie es Ulf Werner für die freien Ensembles beschrieben hat. Es kann daher nur im Interesse der Orchester liegen, das Probespiel-Verfahren immer wieder auf seine Tauglichkeit zu überprüfen.

“Ich glaube, dass es kein perfektes System gibt. Das ist unmöglich”, meint Antony Plog. “Aber ich bin immer dafür zu experimentieren – vielleicht nicht gerade beim Probespiel um die Konzertmeister-Stelle, aber irgendwann sollte man etwas Neues ausprobieren und sehen, ob es eine Hilfe war oder nicht.” Wenn die Orchester also vor dem Probespiel genau überlegen, welche Erwartungen sie an die Kandidaten haben, wenn sie versuchen, die bestmöglichen Bedingungen zu schaffen, wenn alle sich immer wieder darum bemühen, die Besetzung einer Stelle ernst zu nehmen und als wichtige Entscheidung für die Zukunft des Orchesters zu sehen, dann bleibt das Probespiel zwar immer noch eine “steinharte Auslese”, aber es entgeht der Gefahr, irgendwann zu einem erstarrten Ritus zu werden, der an den Bedürfnissen aller Beteiligten vorbeigeht.

Literatur
– Rinderspacher, Alfred: “Instrumentalmusiker. Aktuelle und zukünftige Arbeitsmarktsituation”, in: Das Orchester 2/1998, S. 8
– Rinderspacher, Alfred: “Zum Thema Nachwuchs. Bewerbungen und Anstellungen in den deutschen Orchestern von der Spielzeit 1996/97 bis 1998/99. Übersicht über die Probespielergebnisse”, in: Das Orchester 4/2000, S. 10
– Stevens, Thomas: “Suppose they had an orchestra audition and nobody won? Orchesterprobespiele in den USA”, in: Brass Bulletin 111, 3/2000, S. 106-121

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