Olaf Wilhelmer

Steffen Schleiermacher. Der Avantgartainer

Texte und Gespräche

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Kamprad
erschienen in: das Orchester 12/2020 , Seite 63

Wer kennt ihn nicht? Zumindest dem Namen nach, der von seinem philosophischen Vorfahren Friedrich Schleiermacher herrührt. Doch ist Steffen Schleiermacher weder Romantiker noch religiöser Denker. Ein Denker ist er gleichwohl. Ein scharfzüngiger dazu. Die Erstarrungen des Musiklebens finden keine Gnade vor seinem Wort. Indes gründet sein Urteil immer auf präziser Sachkenntnis. Er ist ein Universalist, wie er heute kaum noch vorkommt: Pianist, Komponist, Ensembleleiter, Veranstalter, Moderator, Funkautor, Glossenschreiber und anderes mehr. Wobei ihm die künstlerische Arbeit vorgeht.
Einer seiner besten Kenner dürfte Olaf Wilhelmer sein, Musikredakteur beim Deutschlandfunk Kultur. Was die beiden zusammenführte, war das gemeinsame Interesse an Josef Matthias Hauer (1883-1959). Der Wiener Komponist konkurriert im Musikschrifttum mit Arnold Schönberg um das Primat der Arbeit mit „zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen“. Wobei er nicht von Reihen ausging, sondern von „Tropen“ (Tonkonstellationen), die sich fortwährend verändern.
Schleiermachers quicklebendige CD-Einspielung der Zwölftonspiele Hauers hatte Wilhelmer zu einer Sendung über den vermeintlich esoterischen Einzelgänger angeregt. Kurz vor der Ausstrahlung lief ihm im Berliner Funkhaus der Pianist über den Weg, bereit zu einem spontanen Interview zum Thema. In der Folgezeit kam es zu vielerlei Begegnungen, Gesprächen, Studioaufnahmen, CD-Produktionen, moderierten Museumskonzerten, Mails und Telefonaten. Die angefallene Texternte streute Wilhelmer jetzt zu Schleiermachers 60. Geburtstag in einen Sammelband – just zu dem Zeitpunkt, da sich dessen Lebenslauf wie die Magdeburger Halbkugeln teilt: 30 Jahre Querkopf in der DDR, 30 Jahre schöpferischer Unruheherd im wiedervereinigten Deutschland.
Aus den Protokollen der neun Gespräche, die Wilhelmer mit ihm führte, erschließen sich stückweise die Lebenslinien und Erfahrungswelten eines Musikers, der trotz „Rotlichtbestrahlung“ während seiner Studienjahre niemals das selbstbestimmte Denken, Tun und Lassen aufgab. Was ihm oft zum Vorteil geriet. Nur ein Beispiel: In Leipzig von gleich zwei Kompositionslehrern betreut (Siegfried Thiele, Friedrich Schenker), rückte er gar zum Reisekader auf, was ihm ermöglichte, parallel ein Aufbaustudium bei dem Kölner Pianisten Aloys Kontarsky aufzunehmen.
Schleiermachers Vorliebe gilt den vernachlässigten Komponisten des 20. Jahrhunderts: den russischen Futuristen, den Unberühmten der Zweiten Wiener Schule, der frühen amerikanischen Moderne, der Musik zwischen den Weltkriegen, Eric Satie, John Cage, Morton Feldman. „Den Hype um Uraufführungen“ versteht er immer weniger. Sein gerechter Zorn trifft die „fast kolonial anmutende Arroganz und Ignoranz“, mit der die ostdeutschen Musikverlage nach 1990 plattgemacht und die Noten der („per definitionem schlechten“) DDR-Komponisten gleich mitentsorgt wurden. Seither trägt er seine Werke selbst zu Markte.
Lutz Lesle