Horstmann, Ute
Stadttheater Hildesheim
Die ersten 100 Jahre
Der Eröffnung des Hildesheimer Stadttheaters am 2. Oktober 1909 ging eine örtliche Spieltradition voraus, die im 13. Jahrhundert mit religiösen Spielen der Stiftsschulen einsetzte und dann den kirchlichen Rahmen verließ, um an wechselnden Spielstätten auch Stücke der wandernden englischen Komödianten, Schuldramen, barocke Bühnenwerke, Klassiker und gar auch kleine Opern (1843 etwa Mozarts Entführung) aufzuführen.
Nicht weniger als 31 Novitäten und 44 Repertoire-Werke kündigte 1909 der erste Spielplan an ein bemerkenswertes Pensum. Das Buch schildert unter Verwendung ausgiebigen Quellenmaterials in anschaulichen Kapiteln etwa den Arbeitsalltag und die nicht eben rosige soziale Lage der Schauspieler, erörtert den alten, ewigen Konflikt zwischen Kunst und Kommerz, die Umwandlung der Theater-Aktien-Gesellschaft in ein kommunal bezuschusstes Pachttheater und die drohende Schließung des Hauses 1924 in Folge der Inflation. Bürgersinn und städtische Förderung führten nach der Zerstörung des Theaters 1945 zu Bemühungen um eine neue Spielstätte, die tatsächlich schon 1949 eröffnet wurde.
Die wechselvolle Nachkriegsgeschichte des Hildesheimer Stadttheaters, das 1997 ein neues Haus bezog, wird in dem Band ausführlich dokumentiert. Dass dabei auch mancherlei interne Grabenkämpfe, politische Hakeleien, immer neue Sparzwänge und das übliche Hickhack mehr oder weniger friedlicher Intendantenwechsel zur Sprache kommen, erhöht neben dem archivarischen Wert auch den anekdotischen Reiz des liebevoll gestalteten Buchs. Zu den so alarmierenden wie betrüblichen Entwicklungen der jüngeren Geschichte gehört die 2007 erzwungene Fusion des Hildesheimer Stadttheaters mit der Landesbühne Hannover zum TfN (Theater für Niedersachsen) mit all den künstlerischen und strukturellen Problemen einer solchen Zusammenlegung.
Der Hildesheimer Spielbetrieb widmete vor allem seit den 1950er Jahren dem musikalischen Genre breiten Raum. Anfänglich standen insbesondere Spielopern auf dem Programm, dann aber folgten ehrgeizigere Werke des einschlägigen Repertoires, daneben auch Ballette, Operetten und später verstärkt Musicals. In der Ära Pierre Léon (1977-90) wurde dieses Spektrum erheblich ausgeweitet. Nun erst wurden Opern in Hildesheim auch in der Originalsprache inszeniert, Raritäten kamen auf die Bühne und das Konzertwesen erfuhr eine deutliche Aufwertung.
Wesentliche Akzente in der Musikpflege des Hauses fasst das abschließende Kapitel Moderne Oper und Konzerte von 1984 bis 2009 zusammen auch dies die eindrucksvolle Bilanz eines Theaters, das in den 100 Jahren seines Bestehens mit immer neuen Nöten, Einschränkungen und Krisen zu kämpfen hatte und das sich doch häufig mit besonderen Leistungen, mit Mut und Engagement hervorgetan und im Dilemma zwischen Kunstauftrag und Wirtschaftlichkeit eine bemerkenswerte Überlebenskunst bewiesen hat.
So gesehen mag das Hildesheimer Theater zwar nicht zur Spitzenklasse deutscher Bühnen gehören, aber es zeigt in seiner Geschichte doch neben den Gefährdungen auch die Chancen und die Vitalität des deutschen Theaterbetriebs.
Rüdiger Krohn