Poulenc, Francis
Stabat Mater / Les Biches
Den Normen der serialistisch ausgerichteten musikalischen Avantgarde der 1950er Jahre entsprach Poulencs Musik keineswegs. Dennoch gehört er zu den großen französischen Komponisten des 20. Jahrhunderts und wird nun auch hierzulande wiederentdeckt. Dabei zählte Poulenc als Mitglied der 1918 gegründeten Musikervereinigung Group des Six um Satie durchaus zur Avantgarde der frühen 1920er Jahre, bevor bald Schönberg und seine Schule den musikalischen Fortschritt für sich reklamierten.
Poulencs Musik bezieht ihren Reiz aus einer feinen kompositorischen Faktur, die Klangsinnlichkeit und Eleganz, bisweilen auch humorvolle Einsprengsel hervorruft. Bei den beiden Werken, die die CD vereint, handelt es sich um eindrucksvolle Repräsentanten seines Schaffens. Sie stammen aus zwei unterschiedlichen Lebensphasen, sie zeugen von Religiosität und diesseitiger Lebensfreude, so wie sie ihm als typische Persönlichkeitsmerkmale nachgesagt werden: zunächst die 1924 uraufgeführte Ballettsuite Les Biches in ihrer vollständigen Fassung einschließlich der häufig weggelassenen Sätze mit Chorbeteiligung, dann, zu Beginn der Einspielung, das Stabat Mater aus dem Jahr 1951. Dieses Werk komponierte Poulenc zur Erinnerung an Christian Bérard, einen Maler und Freund. Sowohl die Rückkehr Poulencs zur Diatonik als auch der klare musikalische Aufbau sind für ein Werk aus der Mitte des 20. Jahrhunderts ungewöhnlich. Für die Trauer werden eindrucksvolle musikalische Ausdrucksweisen gefunden, die die Fürbitten bei der Jungfrau Maria für den Verstorbenen sehr authentisch vermitteln.
Im Gegensatz dazu reiht der Komponist in Les Biches, wörtlich übersetzt Hirschkühe sinngemäß übertragen sind eher leichte Mädchen gemeint , stilistisch sehr unterschiedliche Sätze aneinander, die Neobarockes, vergleichbar mit Strawinskys Pulcinella, mit Jazzelementen, etwa einer Rag-Mazurka, mischen. Auch die Verwendung von Vokalstimmen erinnert an Strawinsky.
Der Chefdirigent des Radio-Sinfonieorchesters Stuttgart des SWR Stéphane Denève, seit der Saison 2011/12 Nachfolger von Roger Norrington, hat für diese Aufnahme sein Orchester mit dem SWR Vokalensemble und dem NDR Chor zusammengeführt. Für die innigen Gesangspassagen im Stabat Mater wurde die im Stuttgarter Musikleben bekannte und gleichzeitig international sehr gefragte Sopranistin Marlis Petersen engagiert. Unter der Leitung Denèves ist den Musikern dieser Aufnahme eine Interpretation gelungen, die den Ausdrucksspagat zwischen der Tiefe religiöser Gefühle und einer sehr pariserischen Leichtigkeit mit einem Schuss Jazz überzeugend vermittelt.
Karim Hassan


