Giovanni Battista Pergolesi

Stabat Mater

Giulia Semenzato (Sopran), Lucile Richardot (Mezzosopran), Ensemble Resonanz, Ltg. Riccardo Minasi

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Harmonia Mundi HMM 902637
erschienen in: das Orchester 11/2021 , Seite 74

Die Aufnahme ist eine Sensation. Ein äußert populäres und vielgespieltes Werk, das übrigens schon im 18. Jahrhundert ein Renner war und von dem heute unzählige, teils ausgezeichnete Aufnahmen vorliegen, so zum Klingen zu bringen, dass das Hören zum atemberaubenden Erlebnis wird: Das ist eine interpretatorische Leistung ersten Rangs.
Gelungen ist sie hier einem der aufregendsten Orchester unserer Tage, dem Hamburger Ensemble Resonanz, das sowohl Alte als auch Neue Musik spielt. Es tritt in der Hansestadt ganz klassisch in der Elphi und mit unüblichen Formaten im Hochbunker auf dem Heiligengeistfeld auf. Und diese Flexibilität und Wandlungsfähigkeit bestimmt auch die Wiedergabe des Stabat Mater von Pergolesi. Diese ist ebenso wenig streng historisch informiert wie romantisierend, dafür aber unbedingt expressiv und gegenwärtig. Die Vertonung eines mittelalterlichen Textes durch das italienische Musikgenie des Spätbarocks an der Schwelle zu einer neuen musikalischen Zeit wird gesungen und gespielt, als drückten Menschen von heute ihre ureigenen Emotionen absolut authentisch mit allen Brüchen und Abgründen aus.
Natürlich ist der Dirigent und Geiger Riccardo Minasi (er agiert in der Regel in beiden Funktionen) ein erfahrener Musiker im Alten Stil und so gibt es hier keine falsche Schwelgerei und keinen Klangbrei, aber hier wird auch keine barocke Klangrede exerziert: Alles scheint aus dem Augenblick zu kommen. Selbst die Verwendung der mitteltönigen Stimmung wirkt so nicht altertümlich, sondern hochmodern. Mit der Sopranistin Giulia Semenzato und der Mezzosopranistin Lucile Richardot singen zwei der stärksten Barocksängerinnen unserer Tage, die sich ganz auf die unbedingte Ausdruckshaltung dieser Interpretation einlassen.
Das Programm der CD beinhaltet außerdem eine Sonata Imitatio a Salve Regina, Mater Misericoria von Angelo Ragazzi und als Besonderheit ein – früher Pergolesi zugeschriebenes – Salve Regina, das, wie im Booklet erklärt, der Dirigent im unmittelbaren Vorfeld der Aufnahme in einem Werk des katalanischen Komponisten Joan Rossell wiederfand. Auch hier gelingt eine Wiedergabe, die voll von expressiven Akzenten ist und der faszinierenden, spürbar von Pergolesi inspirierten Musik nichts von ihrer bewegenden Wirkung schuldig bleibt.
Aufgenommen wurde die sagenhafte CD im Herbst 2020 in Hamburg, sie entstand also in Zeiten der Pandemie. Ob das eine Auswirkung auf die Intensität des Musizierens hat? Das ist im Moment noch schwer zu sagen, ist aber für die Zukunft keine ganz uninteressante Frage.
Übrigens: Das Ensemble Resonanz fungierte im Mai und fungiert im Dezember unter Riccardo Minasi an der Hamburgischen Staatsoper auch als Opernorchester in Händels Agrippina. Auch das ist eine hochspannende und extrem leidenschaftliche Sache, die das Ausdruckspotenzial der Musik aufs Äußerste ausreizt.
Karl Georg Berg