Scarpa, Tiziano
Stabat mater
Roman
Dem Buch eilt ein großer Ruf voraus. Stabat mater aus der Feder des 1963 in Venedig geborenen Tiziano Scarpa wurde 2009 mit dem Premio stregi ausgezeichnet, einem der wichtigsten italienischen Literaturpreise. Scarpas Stabat mater ist zunächst einmal kurz: Optisch überschaubar durch Leerzeilen getrennt reiht sich Abschnitt an Abschnitt. Häppchenweise wird damit versucht, dem Leser die an der Wende zum 18. Jahrhundert angesiedelte Geschichte des 16-jährigen Waisenmädchens Cecilia näherzubringen. Das Mädchen lebt im venezianischen Ospedale della Pietà, schreibt Briefe an die unbekannte Mutter, unterhält sich mit dem Tod in Gestalt eines Schlangenhauptes und spielt Geige.
Das Ospedale della Pietà, Kloster und Waisenhaus, war und hierauf zielt Scarpa ab über mehrere Jahre auch die Wirkungsstätte Antonio Vivaldis, der nach einer Priesterausbildung dort die Waisenmädchen unterrichtete, ihr Orchester stellvertretend leitete und in dieser Zeit eine große Zahl seiner Violinsonaten und Orchesterwerke komponierte. Cecilia und Vivaldi werden zusammentreffen. Cecilias Leben, so der Klappentext von Stabat mater, soll sich dadurch ändern.
Nun scheinen dieses Setting und der von Scarpa, einem glühenden Anhänger von Vivaldis Musik und selbst im Ospedale della Pietà geboren, in seinem Nachwort formulierte Anspruch, sich in den inneren Zustand dieser familienlosen Mädchen im Orchester hineinzuversetzen und zugleich Vivaldis Musik einen Tribut zu zollen, eine Menge Material zu liefern. Doch der Anspruch wird nicht eingelöst. Cecilias innerer Zustand verschwindet unter grob gezimmerten, dem religiösen Vokabular entnommenen Metaphern, erscheint mal seltsam fingiert naiv, mal irritierend altklug und wird durch die nur sehr sparsam eingesetzten Dialoge mit anderen Mädchen und den leicht halluzinatorisch wirkenden Gesprächen Cecilias mit dem Tod zunehmend nebulös. Gestern habe ich geschrieben, dass die Worte sich entrollen, aber vielleicht verknoten sie sich. Sie entrollen sich und verknoten sich, in ein und derselben Bewegung, heißt es in einem der Briefe an die Mutter. Damit ist auch Scarpas Sprache, die entfesselt und gebremst zugleich anmutet, gut charakterisiert.
Zudem braucht Stabat mater geraume zwei Drittel seines Umfangs, bis Cecilia und Vivaldi als Schülerin und Lehrer aufeinander treffen. Dann kommt es zu einem musikalischen Machtkampf der beiden, der aber nicht offen ausgetragen wird. Als Vivaldi seine Schülerin schließlich zwingt, im Schlachthaus ein Lamm zu töten, um aus einem Darm eine Saite für Cecilias Geige herzustellen, bricht Cecilia in Männerkleidung aus dem Kloster aus.
Dass Scarpa sich im Nachwort zugunsten seiner Imaginationsfreiheit auf die Freiheit im Umgang mit historischen Fakten beruft, ist sympathisch, wird damit doch jeder Versuch einer haarspalterischen Krittelei vereitelt. Dennoch erhärtet sich jenseits der Frage nach kreativer Freiheit der Eindruck, dass es so nun wirklich nicht gewesen sein kann, weder mit den Waisenmädchen noch mit dem Priester und Musiker Vivaldi. Das Buch fließt zäh dahin, einem offenen Ende entgegen. 138 Seiten können sehr lang sein.
Beate Tröger