Georg Holzer, Jörg Kramer, Martin Rempe

Staatsphilharmonie Nürnberg

100 Jahre Kulturgeschichte eines Orchesters

Rubrik: Rezension
Verlag/Label: Waxmann, Hamburg
erschienen in: das Orchester 02/2024 , Seite 63

Die Lektüre dieses Bands zum 100-Jahre-Jubiläum der Staatsphilharmonie Nürnberg ist nicht ganz einfach, dafür aber äußerst lohnend: Keine lockere Broschüre mit Image-, Souvenir- und Promotion-Funktion liegt vor, sondern eine detailreiche Geschichte, eine Standortbestimmung in der sozialen Topografie der Metropolregion Nürnberg und Empfehlungen für die Orchester-Navigation Richtung Zukunft. Das Spannende dabei: Sensible Punkte wie der immer wichtigere Einsatz von PR, Kulturvermittlung und Theaterpädagogik zur Selbstbehauptung in Konkurrenz zu einem äußerst breiten Freizeitangebot gehen nicht in Selbstbeweihräucherung unter, sondern werden von Musiktheater-Dramaturg Georg Holzer im Schlussteil deutlich benannt. Der Orchestermusikberuf wird auch wirtschaftlich, strukturell und administrativ beleuchtet. Die Entwicklung des Frauenanteils in den Nürnberger Orchester-Festanstellungen und deren Hintergründe schildert Martin Rempe in einem eigenen Aufsatz.
Auch die verfügbaren Quellen zur Geschichte des Orchesters bis zum Zweiten Weltkrieg hat Rempe im historischen Teil facettenreich ausgewertet. Phasen der Anpassung an die nationalsozialistische Regierung, Konflikte und Rivalitäten wurden unter Berücksichtigung des politischen Klimas vor und nach dem Zweiten Weltkrieg objektiv rekapituliert.
Die lange Ära von GMD und Operndirektor Hans Gierster sowie die ohne Zustimmung des Orchesters erfolgte Berufung von Eberhard Kloke als Nachfolger für den im Mai 1992 entlassenen Christian Thielemann gelangen differenziert zur Darstellung. Auch wesentliche Stationen der Nürnberger (Musik-)Theatergeschichte werden in gegenseitiger Bedingtheit mit der Staatsphilharmonie Nürnberg deutlich: Die Bereicherung des mittelfränkischen Musiklebens durch die Mitwirkung der Orchestermitglieder, die Gastspiele im Theater Fürth, die Vereinigung von Operetten- und Opern-Ensemble zu einer einzigen Musiktheater-Sparte. Der Anspruch einer „Orchestergeschichte von unten“ ist auf hohem Niveau gelungen. Das hat allerdings zur Folge, dass Meilensteine des Nürnberger Musiktheater-Lebens auch der jüngeren Zeit nur am Rande oder gar nicht erwähnt wurden.
Der Anhang enthält neben Listen aller Chefdirigent:innen und Kapellmeister:innen ein Verzeichnis aller festangestellten Orchestermitglieder seit 1922. Besonders interessant liest sich die Darstellung über die Gehaltsgruppierung und die Sorge um den musikalischen Nachwuchs. Durch diese offene Darstellung möglichst vieler Aspekte strahlt der Band eine große Zukunftsgewissheit und selbstbewussten Traditionsbezug aus.
Roland Dippel