Misha Aster

Staatsoper

Die bewegte Geschichte der Berliner Lindenoper im 20. Jahrhundert

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Siedler, München
erschienen in: das Orchester 02/2018 , Seite 59

Vergangenen Herbst ist die Berliner Staatsoper nach sieben Jahren an ihren Stammsitz Unter den Linden zurückgekehrt. Zugleich erschien eine umfangreiche Chronik des Hauses. Sie stammt von dem 30-jährigen Musikwissenschaftler Misha Aster, der bereits das Buch Das Reichsorchester über die Berliner Philharmoniker veröffentlicht hat (siehe Besprechung in das Orchester 1/2008, S. 57).
Zwar wurde die Lindenoper bereits 1742 von Friedrich II. eröffnet, Aster konzentriert sich jedoch auf die stürmische Geschichte des 20. Jahrhunderts, in deren Verlauf das Opernhaus vor den Karren von fünf verschiedenen politischen Systemen gespannt wurde. Obwohl der poli-tische Zeitgeist aus höchst unterschiedlichen Richtungen wehte, zeigen sich verblüffende Kontinuitäten: Unabhängig war die Lindenoper nie, weder künstlerisch noch organisatorisch. Das prestigeträchtige Haus wurde von den wechselnden Machthabern immer wieder für Zwecke der Selbstdarstellung und Propaganda instrumentalisiert, was auch mit Anweisungen zu Repertoire und Rollenbesetzungen einherging. Anlässlich der Uraufführung des Lukullus von Brecht und Dessau forderten die DDR-Kulturfunktionäre sogar Umarbeitungen.
Die verschiedenen Intendanten versuchten, das Feld der künstlerischen Unabhängigkeit möglichst weit zu halten. Doch externer Einflussnahme konnte sich auch der letzte Beleuchter nicht entziehen: Unter den Nationalsozialisten mussten die Angestellten ihr arisches Blut und die vor dem Wehrdienst schützende künstlerische Unabkömmlichkeit nachweisen. In den DDR-Jahren wiederum galt es, die Kriterien eines Reisekaders zu erfüllen.
Der 500-Seiten-Wälzer unterliegt einer Dreiteilung: Weimarer Republik, Nationalsozialismus, DDR, wobei Aster mit Vorliebe die Übergangsphasen beleuchtet. Der Autor liefert eine Fallstudie über die Wechselwirkungen zwischen Politik und Musiktheater. Detailliert erläutert er, wie die wechselnden po-litischen Rahmenbedingungen die Arbeit im Haus und den Spielplan beeinflussen. Großen Raum widmet er dabei der DDR-Zeit. Er schildert die Mechanismen der politischen Einflussnahme, die Infiltrierung des Ensembles durch die Staatssicherheit sowie die Auswahlprozesse für die Teilnahme an Tourneen ins westliche Ausland, die immer wieder als Sprungbrett zur Ausreise genutzt wurden. „Nach jeder Tournee braucht die Staatskapelle einen neuen Soloklarinettisten“, unkte man in Musikerkreisen.
Den künstlerischen Leistungen des Hauses widmet Aster sich nur am Rande. Ein kurzer Epilog behandelt die Epoche vom Mauerfall bis zum Amtsantritt Daniel Barenboims im Jahr 1992. Dieses eher undifferenzierte Kapitel widmet sich vor allem dem Weg Barenboims an die Spitze des Hauses. Zu wenig erfährt man hier über die Transformation der Staatsoper in den frühen 1990ern, die künstlerisch und strukturell gewiss nicht weniger tiefgreifend war als in den früheren Umbruchphasen.
Antje Rößler