Enjott Schneider

Soul Paintings — Seelengemälde

Ingolf Turban (Violine), Cello Duello: Wolfgang Emanuel Schmidt/Jens Peter Maintz, Johannes Fischer (Percussion), Deutsches Symphonie- Orchester Berlin, Ltg. Wolfgang Lischke

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Wergo WER 5113 2
erschienen in: das Orchester 07-08/2016 , Seite 76

Enjott Schneider hat viel zu tun. Kaum ein Monat in diesem Jahr, in dem nicht eine Uraufführung eines seiner Werke im Kalender verzeichnet ist. Im März Ikarus, eine Sinfonie für Piccolotrompete und Orchester, im April Cri muet für Saxofon, Sopranstimme, Chor und Orchester, außerdem ein Konzert für vier Posaunen und Orchester, im Mai Lilith, eine sinfonische Dichtung für Orchester, im Juli die Orgelsinfonie Nr. 15, im August ein Konzert für Flöte, Orgel und Orchester. Virtuos wie nur wenige spielt Enjott Schneider (geboren als N-orbert J-ürgen) auf der Klaviatur der traditionellen Genres: Musiktheater, Konzerte, Sinfonien, Chorwerke, Kammermusik, Lieder. Und immer wieder: Musik zu Filmen und TV-Produktionen. Filmmusik sei für ihn „Traumarbeit in surrealer Welt“ oder „Geschichten erzählen in Tönen und Bildern“. Letzteres trifft grosso modo auf sein gesamtes Schaffen zu. Den Streit, ob Musik mehr „Form“ oder „Inhalt“ sei, bezeichnet er im Beiheft zur vorliegenden CD als „müßig“. Für Schneider ist sie „Ausdruck der Seele“, ein Vorgang, der besonders
im Typus des Solokonzerts Gestalt gewinne.
Zwei davon finden sich auf der CD, die deshalb den sprechenden Titel Seelengemälde trägt. Das Violinkonzert Augen der Erde, entstanden 2014, knüpft an eine Bemerkung von Henry David Thoreau an. Ein See sei „das Auge der Erde“, bemerkte der amerikanische Naturphilosoph in seinem Hauptwerk Walden oder Leben in den Wäldern. Und so, meint Schneider, „darf man die Seen als Zugang zur Seele unseres Planeten sehen“, zum Beispiel den Königssee, den Mondsee im Salzkammergut und den Gardasee. Deren Zauber fängt Schneider in schwelgerischer, spätromantischer Klang­sprache ein, und man merkt sofort, welch exzellenter Kenner des Metiers er ist. Ins Grübeln gerät man jedoch, ob die anspruchsvolle Sologeige nun die Seele der Seen oder doch die des imaginären Wanderers am Ufer vertritt, den die Schönheit der Landschaft zwischen Ehrfurcht, Staunen und Begeisterung hin und her schwanken lässt. Dem Deutschen Symphonie-Orchester unter Wolfgang Lischke und dem Solisten Ingolf Turban jedenfalls gelingt eine fesselnde Interpretation, die auch aufnahmetechnisch voll überzeugen kann (was auch für die anderen Tracks dieser CD gilt).
Ein Filmsujet sui generis greift Schneider mit seinem Doppelkonzert für zwei Violoncelli auf (2013). An der schaurigen Geschichte von Dr. Jekyll und Mr. Hyde reizte ihn die „Gleichzeitigkeit von zwei gegenläufigen, aber durch den Gegensatz unauflöslich verbundenen Charakteren“. In vier Sätzen, umrahmt von Prolog und Epilog, verfolgt das Stück den schicksalhaften Weg des unglücklichen Dr. Jekyll bis zu seinem Selbstmord. Schneider gelingt eine expressive Musik, zu der man im Kopf seinen eigenen Gruselfilm ablaufen lassen kann (fabelhaft die beiden Solisten: Wolfgang Emanuel Schmidt und Jens Peter Maintz). Komplettiert wird die CD durch die zweite seiner sieben Sinfonien (2007). Schlagzeug (Johannes Fischer) und Orchester zeichnen darin ein Porträt des „Sisyphos“. Albert Camus erkannte in ihm bekanntlich einen „glücklichen Menschen“. Das dürfte denn auch für „Enjott“ gelten.
Mathias Nofze