Fauré, Gabriel
Sonate Nr. 2 e-Moll op. 108
hg. von Fabian Kolb, Fingersatz der Klavierstimme von Pascal Rogé mit zusätzlicher bezeichneter Violinstimme von Ernst Schliephake, Urtext, Partitur udn Stimme
Schnell ist bei der Frage, warum Gabriel Fauré hierzulande so wenig gespielt wird, der Hinweis zur Hand, er ließe sich kompositionsgeschichtlich nicht einordnen. In der Tat ist sein Werk kaum spätromantisch noch impressionistisch zu nennen. Er steht vermittelnd zwischen Traditionalisten wie Saint-Saëns, seinem Lehrer, und der damaligen Moderne, u.a. als Lehrer von Ravel. Entsprechend der heutzutage sich verbreitenden Tendenz, das Schubladendenken abzulegen, sollten derartige Kategorisierungen nicht für ein Urteil herhalten es gilt, sich auf Faurés Musik einzulassen.
Die zweite Sonate für Violine und Klavier op. 108 entstand in der Zeit des Ersten Weltkriegs 1916/17; zwischen ihr und der vor allem wegen ihres Finales erfolgreichen ersten Violinsonate in A-Dur liegen 36 Jahre. Das in der Sommerresidenz Évian und in Paris geschriebene Werk enthält drei Sätze: Auf einen umfangreichen Kopfsatz folgt ein Andante, ein Allegro non troppo bildet das Finale.
Der erste Satz steht im ungewöhnlichen Neun-Achtel-Takt, der zudem durch häufige Synkopen und Ligaturen nicht mensurierend wirkt, sondern ein permanentes Fließen erlaubt. Obwohl die Sonatenform im Hintergrund mitgedacht ist, teilt sie sich dem Hörer kaum mit, da Fauré zwar funktional unterschiedliche Teile komponiert, diese aber in vielfältigste Wechselwirkungen stellt. So wirkt die Wiederkehr des zweiten Themas in der Durchführung wie eine Reprise. Der eigentliche Repriseneintritt erscheint als Durchführung, indem die Violinstimme im Kanon geführt und mit der Überleitung verzahnt wird. Trotz deutlicher Höhepunkte bleibt die Musik im Affektgehalt weitgehend einheitlich. Die Violine spielt fast ohne Pause. Der Tonsatz ist schlank gehalten, die Violine ist nur linear eingesetzt, an wenigen Stellen in Oktaven. Der Klaviersatz ist nie dick, Akkorde erschienen stets in arpeggierten Figuren, oft klanglich apart durch hohe Lagen.
Der zweite Satz basiert auf einem Thema aus einer verworfenen Sinfonie. Er beginnt wie ein barocker Satz, um schnell in tonal entlegene Bereiche zu entweichen. Im dritten Satz werden die anfänglichen Synkopen zur Basis. Faurés Harmonik enthält eine Fülle von ungewöhnlichen Anschlüssen, Enharmonik und Ganztönigkeit, aber nie, um diese Materialien auszustellen, sondern um, wie Saint-Saëns schon bei der Besprechung der ersten Sonate formulierte, den Zuhörer dazu zu bringen, die ungeahntesten Kühnheiten als eine ganz normale Sache zu akzeptieren.
Das Notenbild ist wie gewohnt sehr klar und präzise, der Herausgeber liefert einen akribischen kritischen Apparat im Anhang. Sehr nützlich ist die beigefügte zusätzliche Violinstimme mit spielpraktischen Einträgen (Stricharten, Fingersätzen).
Die Kammermusik gilt neben Chorwerken als Hauptgebiet in Faurés Schaffen. Mögen Geiger und Pianisten zu dieser Sonate greifen.
Christian Kuntze-Krakau