Camille Saint-Saëns
Sonate Nr. 1 in d-Moll/Sonate Nr. 2 in Es-Dur
für Violine und Klavier op. 75/op. 102, Urtext, hg. von Fabien Guilloux und François de Médicis
Mit seinen beiden Violinsonaten Nr. 1 d-Moll op. 75 (1885) und Nr. 2 Es-Dur op. 102 (1896) schuf Camille Saint-Saëns zwei bemerkenswerte Beiträge zu einer in Frankreich erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wieder auflebenden und ab den 1780er Jahren zur Blüte gelangenden kammermusikalischen Gattung. In kompositorischer wie ästhetischer Hinsicht markieren diese im Abstand von gut zehn Jahren entstandenen Werke zwei gegensätzliche Positionen: Während die erste Sonate sich als extrovertierte konzertante Komposition für den Konzertsaal erweist und mit ihrer Abfolge von zwei Abteilungen mit je zwei zusammenhängenden Sätzen die formalen Aspekte der Sonatenarchitektur neu denkt, weist die zweite Sonate einen weitaus intimeren Charakter auf, den Saint-Saëns in Wechselwirkung mit deutlich hervortretenden Einflüssen klassizistischen Formdenkens entfaltet.
Die beiden von Fabien Guilloux und François de Médicis herausgegebenen Bände sind in üblicher Bärenreiter-Qualität gesetzt und dem Usus der Urtext-Reihe gemäß mit mehrteiligen Einführungen (in deutscher, englischer und französischer Sprache) ausgestattet. Hier sind in übersichtlicher Weise verschiedenste Details zur Entstehungs- und Veröffentlichungsgeschichte der Kompositionen gebündelt, und es wird über Widmungsträger, Interpreten, erste Aufführungen und Rezeption der Werke berichtet. Dabei darf natürlich auch der Hinweis nicht fehlen, dass die d-Moll-Sonate als eine der Inspirationsquellen für die fiktive Sonate à Vinteuil aus Marcel Prousts Romanzyklus À la recherche du temps perdu gedient hat. Angaben zu den Quellen der Edition und zu einzelnen editorischen Entscheidungen – etwa zur Hinzufügung sehr sparsam gesetzter Herausgeber-Ergänzungen – runden diese Informationen ab.
Enttäuschend ist allerdings, dass die Hinweise zur Interpretation, die Bärenreiter mittlerweile in anderen Urtext-Ausgaben zu einem zentralen Bestandteil gemacht hat, in beiden Bänden äußerst spärlich geraten sind. Sie enthalten fast ausschließlich allgemeine Hinweise zum möglichst zurückhaltenden Pedalgebrauch beim Klavier, denen im Fall der Es-Dur-Sonate noch ein Briefzitat beigegeben ist, in dem sich der Komponist gegen einen „großen Ton“ der Violine im langsamen Satz ausspricht. Das Aussparen darüber hinausgehender Erläuterungen zum Violinpart ist bedauerlich, weil es angesichts besonderer spieltechnischer Eigenheiten wie dem Einsatz von Portamento und Vibrato in der französischen Violinmusik sowie mit Bezug auf die Frage nach dem von Saint-Saëns angestrebten Klangideal sinnvoll gewesen wäre, auf gewisse Diskrepanzen zwischen Notentext und aufführungspraktischen Gegebenheiten hinzuweisen.
Stefan Drees