Brahms, Johannes

Sonate in G

für Violine und Klavier op. 78, Urtext, hg. von Clive Brown / Neal Peres Da Costa, Partitur und Stimme / Aufführungspraktische Hinweise zu Johannes Brahms' Kammermusik

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Bärenreiter, Kassel 2015
erschienen in: das Orchester 05/2016 , Seite 67

Auch wenn das Wissen um die Bedeutsamkeit historisch informierten Musizierens längst zum Studienalltag an den Musikhochschulen gehört, lässt die Umsetzung entsprechender Aspekte in der Praxis des Hauptfach-Instrumentalunterrichts noch zu wünschen übrig. Viel zu eingefahren sind bis heute die Meinungen darüber, wie etwas zu spielen sei, und nicht eben selten erschüttert das Unwissen der Instrumentallehrkräfte das Vertrauen in eine adäquate und kenntnisreiche Vermittlung historischer Zusammenhänge.
Dem wird nun zumindest in editorischer Hinsicht abgeholfen, da die vorliegende Ausgabe eine empfindliche Lücke zwischen Theorie und Praxis schließt: Als Teil einer ganzen Reihe, die sich den Brahms’schen Werken für Streichinstrument und Klavier widmet, stellt sie die G-Dur-Sonate in ihrem historischen Umfeld dar, geht also weit über die Präsentation eines wissenschaftlich-kritischen Urtexts hinaus, indem sie sowohl die technischen und klanglichen Möglichkeiten des damaligen Instrumentariums als auch die individuelle Spielpraxis der damit betrauten Musiker berücksichtigt.
Für Violine und Violoncello gleichermaßen relevant ist der unter Mitwirkung renommierter Wissenschaftler konzipierte Begleitband, der sich mit allgemeinen Aspekten der Aufführungspraxis – also mit der Frage nach Tempo, Rubato, rhythmischer Flexibilität und Artikulation – befasst, viele aufführungspraktische Hinweise für Streicher (zu Klanggestaltung, Fingersatz als Ausdrucksmittel und Bogenführung) enthält, den Kontext pianistischer Aufführungspraktiken bei Brahms, im Brahms-Kreis und bei Brahms-­Zeitgenossen streift und sich schließlich noch einmal speziell dem Verhältnis zwischen Brahms und dem Violoncello widmet.
Verdanken sich schon der Lektüre dieser Beiträge viele Anregungen, geht die Neuedition der Sonate noch einen Schritt weiter, da sie die aufführungspraktischen Erwägungen am Werk selbst exemplifiziert. Neben dem Urtext von Violin- und Klavierpart enthält die Ausgabe eine von Clive Brown bezeichnete Violinstimme, deren editorische Gestaltung in einem ausführlichen Text wissenschaftlich untermauert wird. Hierfür wertet Brown nicht nur unterschiedliche Quellendokumente wie Aufführungskritiken oder Lehrwerke aus, sondern analysiert und vergleicht auch diverse frühe Ausgaben der Sonate, die von einem jeweils spezifischen geigerischen Umgang mit dem Notentext künden. Da diesem Teil noch ein Kapitel zu Kompositionsprozess, Aufführungs- und Rezeptionsgeschichte vorausgeschickt ist, ergibt sich in der Gesamtheit ein sehr facettenreiches Bild von op. 78, das auch für denjenigen von Interesse sein dürfte, der sich nicht als praktizierender Musiker mit dem Notentext auseinandersetzt.
Eigentlich kann man nur wünschen, dass Bärenreiter diese hochwertige Art von wissenschaftlich betreuter Ausgabe in Zukunft auch auf Werke anderer Komponisten ausweitet.
Stefan Drees