Ravel, Maurice
Sonate für Violine und Violoncello
Urtext, hg. von Ulrich Krämer, zusätzlich: Stimmen mit Fingersatz und Strichbezeichnung von Frank Peter Zimmermann bzw. Christian Poltéra
Unzeitgemäß seien seine Werke, hatten einzelne Zeitgenossen Maurice Ravel vorgeworfen. Er konterte mit seiner Sonate für Violine und Violoncello, die zwischen 1920 und 1922 entstand und zwar auch nicht hundertprozentig positiv aufgenommen wurde, sich jedoch als sehr zukunftsgerichtet erweist. Auch seiner eigenen Einschätzung zufolge stellte die Komposition, die allein wegen der Länge ihrer vier Sätze wie auch aufgrund der Art der Themenverarbeitung einen quasi symphonischen Charakter besitzt, einen Wendepunkt in seinem Schaffen dar. Die schon durch die Instrumentation bedingte Sparsamkeit des musikalischen Satzes, die gewagte, mitunter sehr dissonante Harmonik und die von Strawinsky beeinflusste Rhythmik bewirken eine überaus moderne Tonsprache, bei der ganz offensichtlich die Linearität der Stimmführung im Vordergrund steht.
Bei Henle ist jetzt eine Neuausgabe des Werks erschienen; sie basiert im Wesentlichen auf der revidierten Auflage der ersten Druckfassung bei Durand (Paris) von 1922, deren Herausgabe Ravel persönlich überwachte, bezieht aber auch alle anderen verfügbaren Quellen mit ein. Das sind zum einen der Vorabdruck des ersten Sonatensatzes in einer Claude Debussy gewidmeten Sondernummer der Zeitschrift La Revue musicale, zum anderen drei Autografe der Sätze zwei bis vier. Zwei von diesen Letzteren hatten Hélène Jourdan-Morhange bzw. Maurice Maréchal gehört die bei-den hatten das Werk gemeinsam mit Ravel erarbeitet und uraufgeführt ,weswegen sie auch entsprechende Notizen aus den gemeinsamen Proben (Metronomangaben, Hinweise zur Dynamik etc.) aufweisen. Eines diente offensichtlich als Stichvorlage für die erste Druckversion. Das Autograf des ersten Satzes ist verschollen.
Die Ausgabe von Henle enthält beide Stimmen in doppelter Ausfertigung: Je eine präsentiert neue Vorschläge für Fingersätze und Strichbezeichnungen (in der Violinstimme von Frank Peter Zimmermann, für das Cello von Christian Poltéra); die andere weist nur die Strich- und Saitenbezeichnungen aus den Quellen auf und kann benutzt werden, falls man sich an den modernen Anregungen nicht orientieren möchte. Die Stimme des jeweils anderen Instruments wird in den Partituren stets in kleinerer Notenschrift wiedergegeben.
Die eine der beiden Violinstimmen beinhaltet ein informatives Vorwort des Herausgebers und einen ausführlichen Kommentarteil mit einer Auflistung von mutmaßlichen Druckfehlern und deren Korrekturen sowie von Zweifelsfällen, die durch Abweichungen der Quellen untereinander zustande kommen; hierbei wird auch angegeben, welcher Lesart die Ausgabe jeweils folgt.
Wer also wissenschaftlich fundiert schuften will (so Ravels eigene Wortwahl in Bezug auf seine Proben mit Jourdan-Morhange und Maréchal), um sich das Werk zu eigen zu machen, dem kann diese übersichtliche, auf gründlicher Recherche beruhende und von Fehlern bereinigte Fassung uneingeschränkt empfohlen werden.
Julia Hartel