Brahms, Johannes

Sonate f-Moll op. 120 Nr. 1 / Es-Dur op. 120 Nr. 2 für Viola und Klavier

revidierte Ausgabe von Thomas Riebl, Spielpartituren

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Partitura, Winterthur 2016
erschienen in: das Orchester 10/2016 , Seite 60

Meist gibt es in der Kammermusik mit Klavier nur einen, der den „Überblick“ behalten kann: Der Pianist spielt traditionsgemäß aus der Partitur, Streichern und Bläsern bleiben nur der Blick in die eigene Stimme und das Zuhören. Das möchte der Winterthurer Musikverlag Partitura ändern und bringt deshalb Kammermusikwerke in Spielpartituren heraus, die allen Beteiligten stets die gesamte Musik vor Augen führen. So bestehen die beiden vorliegenden Notenbände aus jeweils zwei Partituren, in denen einmal die Klavier- und einmal die Streicherstimme in „normaler“ und die jeweils andere Stimme in etwas verringerter Größe abgedruckt sind.
Doch nicht nur die Darstellung ist neu in der Partitura-Veröffentlichung der beiden Sonaten für Viola und Klavier aus op. 120 von Johannes Brahms. Thomas Riebl, Bratschist und Professor am Salzburger Mozarteum, hat sich entschlossen, die Streicherstimme aufgrund der mangelhaften Quellenlage neu zu fassen. So strebt er an, hinsichtlich Phrasierung und Führung der Solostimme das beste aus zwei Welten zu vereinen: die geschmeidigen Bläserlinien und impulsiven Sprünge des Klarinetten-Originals und die Klarheit der Zeichnung durch ein Streichinstrument. Ob das Ergebnis mehr ist als ein Kompromiss, muss natürlich jede einzelne Aufführung unter Beweis stellen, reizvoll ist der Gedanke aber schon, eine Bratsche so virtuos zu behandeln, als sei sie – bis zu einem gewissen Grad – in der Lage, ein Blasinstrument zu imitieren.
In seinem Vorwort nimmt Thomas Riebl Bezug auf Brahms’ Unzufriedenheit mit der von ihm selbst angefertigten Fassung für Viola und Klavier und vermutet möglicherweise zu Recht, dass das hohe technische Niveau von Bratschern diese Bearbeitung heutzutage nicht (mehr) als „zweite Wahl“ erscheinen lässt. Man mag einwenden, dass der überaus biegsame Klarinettenton, der warme und runde Klang nur schwer von einem hohen Streichinstrument zu erreichen sein wird; doch muss man sicher zugeben, dass es in den beiden Sonaten von Brahms namentlich in den schnellen Sätzen reichlich Gelegenheit geben wird, die musikalischen Vorteile der Bratsche auszuspielen. In Sachen Akzentuierung und Konturen darf man hier sicher Vorteile vermuten, die den geringeren Dynamikumfang in den Hintergrund treten lassen.
Mit Hilfe der beiden Brahms-Bände könnte man nun also einen spannenden musikalischen Versuch wagen: Es gälte herauszufinden, wie viel Klarinette in der Viola steckt und um wie viel überzeugender das kammermusikalische Miteinander durch den Partitur-Ansatz wird. Wahrscheinlich lässt sich das eine nicht vom anderen trennen, doch wird ganz sicher dann der musikalische Gehalt am besten dargestellt sein, wenn Bratsche und Klavier zu einer Einheit verschmelzen, die technische Grenzen der Instrumente vergessen macht.
Daniel Knödler