Gernsheim, Friedrich

Sonate e-Moll op. 87

für Violoncello und Pianoforte, Partitur und Stimme

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Dohr, Köln 2014
erschienen in: das Orchester 09/2014 , Seite 74

Am 28. Juni 1914, dem Tag des Attentats von Sarajevo, vollendete Friedrich Gernsheim seine e-Moll-Cellosonate op. 87. Allzu viel Symbolik sollten wir in diese Koinzidenz nicht hineininterpretieren, doch gewiss hat das Zentenarium die Erstveröffentlichung des Werks mit befördert. Für die Edition konnte auf ein Manuskript zurückgegriffen werden, das sich im Archiv der Berliner Akademie der Künste befindet. Fast einhundert Jahre musste Gernsheims Sonate auch auf ihre Uraufführung warten: 2012 spielten Katharina Schmitt und Christian Schmitt-Engelstadt – Kantor der Lutherkirche Worms und Herausgeber der vorliegenden Edition – das Werk erstmals im Herrnsheimer Schloss zu Worms.
Ebendort, in der pfälzischen Domstadt am Rhein, wurde Gernsheim 1839 als Spross einer jüdischen Familie geboren. Er gehörte zu einer Gruppe bedeutender Musiker, die wir heute als „Kleinmeister“ wahrnehmen, weil sich ihr historischer Platz in erster Linie über die zeitliche und ästhetische Nähe zu Johannes Brahms und dessen immensen Einfluss definiert. Gernsheim schrieb weder Opern noch Oratorien (und anders als Brahms auch nur wenige Lieder), dafür eine Reihe kleinerer Chorwerke, außerdem Sinfonien, Klavierwerke, vor allem aber viel Kammermusik.
Sein bewegtes Leben begann mit einer Wunderkindkarriere als Pianist, Geiger und Komponist, dem ein Studium am Leipziger Konservatorium und ein Aufenthalt in Paris (1855-1861) folgten. Hier pflegte er Umgang mit den Größen seiner Zeit und sammelte Erfahrungen als Lehrer, die ihm an den folgenden Berufsstationen Saarbrücken und Köln zugute kamen. Ab 1874 wirkte er als Musikdirektor in Rotterdam, bevor er 1890 Direktor des Stern’schen Konservatoriums in Berlin wurde. Dies liest sich rundheraus wie eine Erfolgsvita, doch verraten Äußerungen Gernsheims über die Offenheit der niederländischen Gesellschaft, dass er als nicht-konvertierter Jude in Preußen manche Zurückweisung erleben musste.
Gernsheims späte Sonate (im selben Jahr 1914 entstanden Weberns „pulverisierte“ Cellostücke op. 11!) zeigt die keineswegs kleinmeisterlichen Qualitäten des Komponisten: melodischen und harmonischen Erfindungsreichtum, Gefühl für Proportionen, einen spezifischen Sensus für instrumentale Virtuosität, die niemals im Sinne oberflächlicher Effekte eingesetzt wird. Die Ecksätze greifen weit aus: Sie sind als Sonatensätze mit jeweils drei Themen konstruiert und zeigen große Geschlossenheit der Formverläufe. Der Mittelsatz beginnt und endet als Romanze, in seinem c-Moll-Mittelteil jedoch kommt es zu heftigen Entladungen, kulminierend in einer Fortissimo-Passage, deren rauschende Arpeggien in eine sechstaktige As-Dur-Überleitungspassage münden, die ihrerseits die variierte Wiederholung des C-Dur-Hauptteils einleitet. Hier und an anderen Stellen der Sonate gelingen Gernsheim mit seiner Vorliebe für mediantische Verbindungen berückende Wirkungen.
Ein schönes Stück Musik, gut ediert und mit einem lesenswerten Vorwort ausgestattet … zugreifen!
Gerhard Anders