Maurice Ravel

Sonate/Berceuse sur le nom de Gabriel Fauré

für Violine und Klavier, Urtext hg. von Douglas Woodfull-Harris

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Bärenreiter
erschienen in: das Orchester 02/2023 , Seite 65

Mit kaum einem anderen Werk hat Maurice Ravel in der Entstehungszeit so intensiv gerungen wie mit der Sonate für Violine und Klavier, die nun im Bärenreiter-Verlag in einer neuen, kritischen Urtextausgabe erschienen ist. Wie der umfangreichen und dreisprachigen Einführung des Herausgebers Douglas Woodfull-Harris zur Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte entnommen werden kann, stellten für Ravel gerade die Violine und das Klavier zwei „vollkommen wesensfremde Instrumente“ dar, die es in dieser Sonate zu vereinen, aber auch in ihrer Unterschiedlichkeit zu bewahren galt. Ravels intensiver Schaffensprozess fand nach vier Jahren schließlich sein Ende: Gemeinsam mit dem Geiger George Enescu führte er die Sonate 1927 in Paris zum ersten Mal auf.
Ohne Zweifel stellt die Sonate ein Werk dar, das in keiner Repertoireliste von professionellen Geiger:innen fehlen sollte. Es vereint höchste technische Ansprüche mit einer breiten Palette an Klangfarben, verpackt in Polyrhythmik und der „Verschleierung gewohnter Harmonien“. Und der quasi im Blues komponierte zweite Satz ermöglicht es beiden Instrumenten, die Grenzen des Gewohnten gleichsam zu sprengen und klanglich wie rhythmisch über sich hinauszuwachsen.
Was aber genau spricht nun für den Kauf dieser neuen Urtextausgabe? Zum einen ist es Woodfull-Harris’ außerordentlich akribische Entstehungs- und Hintergrundforschung zum Werk, die er dem Leser offenlegt. Er bereichert diese sogar um Gedanken zum Tempo der Darbietung auf der Grundlage von Vergleichen heutiger Aufführungsdauern mit denen von 1930. Es sind außerdem die klar begründeten und auf die Auswertung der verschiedenen Quellen bezogenen Entscheidungen des Herausgebers, die überzeugen. Sowohl die abgedruckten Klavier- wie auch die Fingersätze der Violine belässt Woodfull-Harris so, wie sie Ravel für das Klavier und unter anderem George Enescu für die Geige vorschlugen. Im umfangreichen kritischen Kommentar stellt Woodfull-Harris die zu Grunde gelegten Quellen gegenüber, diskutiert sie und trifft umsichtige und fundierte Entscheidungen. Dadurch ermöglicht er es den Interpret:innen der Sonate, das Werk in seinem gesamten Entstehungsumfeld zu begreifen, und eröffnet ihnen auf diese Weise verschiedene Blickwinkel und Interpretationsspielräume. Ein weiterer Pluspunkt dieser Neuausgabe ist neben der praktischen Seitengebung der Violinstimme, bei der die Noten im zweiten und dritten Satz zu drei Seiten ausgeklappt werden können, sicherlich auch die Hinzufügung von Ravels Berceuse sur le nom de Gabriel Fauré als erstmalige Urtextausgabe. Somit kann für diese Neuerscheinung eine klare Kaufempfehlung ausgesprochen werden. Gabriele Hirte