Paul Hindemith

Sonate

für Violoncello und Klavier op. 11 (Erstfassung 1919), ergänzt und bearb. von Fazıl Say, Partitur und Stimme

Rubrik:
Verlag/Label: Schott, Mainz 2013
erschienen in: das Orchester 02/2015 , Seite 72

Als in den 1980er Jahren durch zahlreiche Aufführungen und Einspielungen endlich auch der „junge Hindemith“ entdeckt wurde, kam selbst die Fachwelt nicht aus dem Staunen heraus. Denn was der Komponist einst als Werke des eigenen Übergangs unveröffentlicht in die Schublade gelegt hatte, war von so außerordentlicher Qualität, dass es manch ande-res Œuvre an vorderster Stelle hätte zieren können. Betroffen von dieser Selbstzensur sind vor allem Partituren bis 1921, darunter das überaus frühreife Streichquartett op. 2, die über alles hinwegfegenden Orchesterlieder op. 9, aber auch die Whitman-Hymnen op. 14 und die zarten Klavierstücke In einer Nacht op. 15. Anderes ist unwiederbringlich verloren oder liegt nur mehr als Fragment oder in Skizzenform vor: so das Klaviertrio op. 1, ein Klavierquintett op. 7, die Klaviersonate op. 17 – wie auch die erste Fassung der Sonate für Violoncello und Klavier op. 11/3.
Im Sommer entstanden und am 27. Oktober 1919 in Frankfurt uraufgeführt, gehört diese dreiteilig angelegte Komposition zu Hindemiths gewichtigem Sonaten-Zyklus op. 11, der auch Werke für Violine und Viola
– teilweise auch ohne Klavier – umfasst und der eine sich binnen weniger Monate rasant vollziehende stilistische Entwicklung abbildet. Aus diesem Grund blieb die Sonate für Violine allein op. 11/6 ungedruckt, während Hindemith seine Cellosonate op. 11/3 zwei Jahre später gründlich revidierte. Der erste Teil wurde durch einen neuen, neobarock geprägten kürze-
ren Kopfsatz ersetzt und der dritte Teil komplett gestrichen. Allein der ursprünglich zweite Teil der Komposition blieb vollständig erhalten. Er dürfte für den jungen Tonsetzer wegen seiner berückenden Ausdruckstiefe von besonderem Wert gewesen sein, zumal er ursprünglich mit Im Schilf. Trauerzug und Bacchanale überschrieben war – eine poetische Anlehnung an Verse von Walt Whitman (in der Übersetzung von Johannes Schaf): „Heb an, teurer Bruder!/Aus dem Schilf lass dein Lied erschallen!/Laut dein wehbeseeltes Lied.“
Angesichts dieses Kontexts ist der Versuch einer Rekonstruktion der ersten Fassung ebenso spannend wie schwierig: An Material haben sich neben den für Hindemiths Schaffen obligatorischen Skizzen nur die separate autografe Cellostimme und die ersten 27 Takte des dritten Teils erhalten – ausreichend, um den Verlauf insgesamt abzubilden, zu wenig, um die ursprüngliche Harmonik en detail abzubilden. Zu Recht spricht daher Susanne Schaal-Gotthardt in der Einleitung der Ausgabe von einer „individuell geprägten […] freien Rekonstruktion“ durch Fazıl Say, der so auch „Takte kürzte oder harmonische Fortschreitungen aus Gründen einer kohärenten musikalischen Logik veränderte“. Bedauerlich nur, dass dies nicht dokumentiert wurde; die Skizzen werden erst später einmal in der Hindemith-Gesamtausgabe in Transkription erscheinen (vgl. Bd. V/6, Vorwort, Anm. 16).
Erstmals erklang die ergänzte und bearbeitete Sonate am 29. September 2013 während des Kronberg Academy Festivals durch Nicolas Altstaedt (Violoncello) und Fazıl Say (Klavier).
Michael Kube