Artur Schnabel / Eduard Erdmann

The Happiest Years – Sonata for Violin Solo / Sonata for Violin solo op. 12

Judith Ingolfsson (Violine)

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Genuin
erschienen in: das Orchester 12/2020 , Seite 77

Paradigmatisch für die zwiespältige Haltung der Zeitgenossen gegenüber der Musik des vorrangig als Pianist bekannten Artur Schnabel mag die Meinung sein, die der Uraufführungsinterpret Carl Flesch gegenüber der Sonate für Violine solo (1919) äußerte: Einerseits beschrieb er in seiner Kunst des Violinspiels die neuartigen technischen Anforderungen und Ausdrucksmittel des Werks. Andererseits aber äußerte er auch Vorbehalte gegenüber der nicht mehr der Tonalität verpflichteten Sprache, weil sie sich seiner Meinung nach gegen traditionelle Wahrnehmungsgewohnheiten sperrte.
Ein Jahrhundert nach ihrer Entstehung führt die zwischen 45 und 50 Minuten Spielzeit einfordernde fünfsätzige Komposition immer noch ein Schattendasein im Repertoire. Zwar ist Judith Ingolfsson nicht die erste Interpretin, die sich der monumentalen Solosonate widmet – die Prägnanz und Intensität der Einspielung von Christian Tetzlaff aus dem Jahr 1992 bleibt weiterhin unerreicht –, doch befördert die sorgfältige Annäherung der Geigerin das Stück erneut in den Fokus der Aufmerksamkeit.
Ingolfssons Zugang überzeugt durch ein enormes Gespür für den differenzierten Einsatz von Klangfarben, dynamischen Schattierungen und – unmittelbar damit zusammenhängend – Stimmungswechseln. Den Kopfsatz beispielsweise beginnt sie wie eine Erzählung: In geradezu redendem Gestus umkreist sie die Setzungen des Komponisten, schweift dabei immer wieder in den Duktus instrumentalen Gesangs ab und lauscht, nach und nach auch in kräftigeren Tonfall übergehend, dem quasi-fantasierenden Stil der Musik nach. Im dritten Satz wiederum führt sie den Hörer mit feinsten Vibratoabstufungen an der weit schweifenden Kantilene entlang, um ihn dann schließlich mit den herausfordernden Verdichtungen der mehrstimmigen Forte-Passagen zu konfrontieren. Besonders gut findet sich die Geigerin in die komplexe Architektur des Finalsatzes hinein, dessen Schwanken zwischen Variationscharakter und polyfonen Setzungen sie mit vielfältigen Übergängen zwischen emphatischem Ausdruck und reflexiver Zurücknahme begegnet.
Gegenüber Schnabels Komposition erweist sich Eduard Erdmanns aus derselben Zeit stammende viersätzige Sonate für Violine solo (1921) zwar als weniger ausufernd, doch steckt auch sie voller anspruchsvoller interpretatorischer Aufgaben. Besonders reizvoll ist in diesem Fall das Spannungsverhältnis, das sich aus der atonalen Harmonik und dem in formaler Hinsicht klassizistischen Formverständnis samt der daraus folgenden, eher traditionellen Dramaturgie ergibt. Auch dieses Werk profitiert von Ingolfssons klugem Umgang mit geigerischer Klanggebung, die vor allem im ersten Satz mit einer spannungsreichen agogischen Ausgestaltung der musikalischen Entwicklungen einhergeht. Insgesamt ist hier eine rundum gelungene CD entstanden, die vielleicht dazu beitragen kann, beide Werke stärker im Bewusstsein der Öffentlichkeit zu verankern.
Stefan Drees