Widmann, Jörg

Sommersonate

für Violine und Klavier, Partitur und Stimme

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Schott, Mainz 2015
erschienen in: das Orchester 07-08/2015 , Seite 71

Mit der Sommersonate fügt der vielfach ausgezeichnete Komponist Jörg Widmann ein weiteres Kammermusikwerk seinem schon jetzt umfangreichen Werkkatalog hinzu. In einem kurzen Vorwort deutet er sein Interesse an der Gattung an. Er sieht Bezugnahmen auf traditionelle Formgebungen als selbstauferlegte, damit also „freiwillige Fesselungen“, die ihn zu „neuen und überraschenden Lösungen“ führten. Widmanns postmoderner Ansatz basiert auf der Fähigkeit, genaue Kenntnisse der Musikgeschichte und des Repertoires für seine sehr reflektierte Kompositionstechnik nutzbar zu machen, für die ihm eine Vielzahl von Verfahren und Materialbehandlungsweisen zur Verfügung stehen.
In Widmanns Sonate dominiert meist das Klavier, gleichwohl lässt er beide Parts in (zum Teil auch sehr konträre) Dialoge treten. Dem Violinspieler werden traditionelle Techniken zugemutet, einschließlich Doppelgriffen, Flageoletts und Glissandi, hingegen keine Vierteltöne oder Geräuschhaftes; eine hohe Griffsicherheit wird vorausgesetzt. Der Klavierpart ist eher linear als akkordisch gedacht, durch häufige Sprünge und Lagenwechsel zuweilen schwer zu spielen.
Die Introduktion des sehr langen ersten Satzes beginnt mit variierten Quinten, die an das Stimmen der Geige gemahnen wie einst in Alban Bergs Violinkonzert. Hier wird auch der Gestus des ersten Themas (marschartig) und des zweiten (aufsteigende Kantilene) vorbereitet. Diese an die Tradi-
tion der romantischen Beethoven-Deutung anknüpfende Anlage wird durch die Gegenüberstellung von erweiterter Tonalität und Ganztönigkeit verstärkt. Die Wiederholung der Exposition wird ausgedruckt, da in ihr der Hauptsatz eine imitierende zusätzliche Stimme erhält. Eine sehr umfangreiche Durchführung schließt sich an; hier fantasiert der Komponist vielfältig mit dem Material, deutet Scheinreprisen an, spielt mit der Form durch Einfügung einer Kadenz und einer Coda. Eine nur angedeutete Reprise beschließt den Satz, am Ende verharrend auf der Repetition des D-Dur-Akkords mit bitonalen Einwürfen. Assoziationen an Beethoven (weniger an dessen „Frühlingssonate“ als an die Pathetique) und Schostakowitsch werden hervorgerufen.
Der zweite Satz trägt den Titel „Romanze“. Ein einfaches Hauptthema wird immer wieder unterbrochen oder überlagert, es entsteht ein Wechselspiel von Einheitlichkeit und Disparität, Letztere gesteigert durch häufige Tempowechsel. Zitate aus dem ersten Satz (Akkordrepetitionen, Hauptthema) sollen Zusammenhänge stiften zwischen den beiden im Abstand von drei Jahren entstandenen Sätzen, die auch verschiedene Auftraggeber hatten.
Die Aufführungsdauer der Sommersonate Widmanns beträgt rund eine halbe Stunde. Durch Verzicht auf einen dritten oder auch vierten Satz geht er der Auseinandersetzung mit dem Tanzsatz bzw. dem Finalproblem aus dem Weg. Trotz der Wirkmächtigkeit der Tradition gelingt es Widmann, einen eigenen Ton zu wahren. Dieser ist, nicht zuletzt durch tonal deutbare Klangflächen und Melodiefragmente, oft freundlich für das Ohr.
Christian Kuntze-Krakau