Martin Geck

So sah die Welt Beethoven

Momentaufnahmen in Wort und Bild aus zwei Jahrhunderten

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Olms
erschienen in: das Orchester 12/2020 , Seite 61

Eine Bizarrerie: Die amerikanische Musikologin Susan McClary hört den Beginn der Reprise im ersten Satz der Neunten als „one of the most horrifying moments in music“, hört Energien aufgebaut, die schließlich explodieren „in the throttling, murderous rage of a rapist incapable of attaining release“. McClarys feministischen Ausbrüchen widerspricht Martin Geck in seinem umfassend abwägendem Kommentar in puncto Festlegung Beethovens „hochdifferenzierter Musik“ auf „gendermäßige Merkmale“. Er gesteht der Autorin dennoch die Veröffentlichung ihres „subjektiven Erlebens“ zu, denn „wer aus der Musik Beethovens den dynamischen, den liebenden oder den trauernden Menschen herauszuhören vermeint, sollte nicht im Namen des Komponisten beleidigt sein, wenn nun auch der Vergewaltiger ins Spiel kommt – wie direkt oder metaphorisch die Assoziation auch gemeint sein mag.“
Das ist eine der „spannenden Begegnungen zwischen Beethoven und denen, die ihn auf ihre Weise verstanden haben“, wie Holger Noltze diese „Rezeptionsgeschichte in 78 Feuilletons“ in seinem bewundernden Vorwort nennt. Spannend zu lesen ist sie auch als Begegnung dieser Texte (die einige Male auch Abbildungen, Beethoven-Spiegelungen aus der bildenden Kunst sind) mit ihrem so kundigen Kommentator Martin Geck. Das beginnt mit den einzigen Zeugnissen aus Beethovens Kindheit, mit väterlichen Zwängen, vor denen er zu „schönen, tiefen Gedanken“ auf den Speicher flieht. Geck weiß da ganz zwingend eine zutiefst menschliche Verbindung herzustellen zu den Widersprüchen des Spätwerks, zur Großen Fuge op.133 mit ihren kontrapunktischen Künsten, „mit denen der junge Beethoven bereits beim Studium Bach’scher Fugen konfrontiert wurde – womöglich unter Tränen“. Von menschlicher Nähe geprägt ist auch der Text Bettine von Arnims. Geck nimmt darin – hinter all der Schwärmerei – Arnims „Gespür für Beethoven als Philosoph in Tönen“ wahr, wohingegen er McClarys Äußerungen ja auch eine „Beleidigung des Komponisten“ nennt.
Es gibt in diesem Universum der Beethoven-Begegnungen die „Sternstunden des Musikfeuilletons“, etwa mit dem frühen Text eines Ernst Wagner, der sich erstmals (1807 im Morgenblatt für gebildete Stände) literarischer Kategorien bedient. Amüsant zu lesen sind Shaws spitzzüngige Vergleiche oder Aurics kühle Ablehnung. Ravel spricht von „unvollkommener Musik“, Heine spottet und erweist sich trotzdem als Kenner. Nicht vergessen seien etliche Texte (Jenny Aloni, Josef Stalin), die mit der „Schändung der Kunst Beethovens“ zu tun haben. Man stößt auf vergessene Namen, auf prominente Namen, man blättert, liest sich fest und man könnte sich das Spiel erlauben, die Lese-Reihenfolge „links – rechts“, Quellentext – Kommentar, einfach einmal umzukehren zu einem anderen Weg des Verstehens.
Das Vorwort Holger Noltzes ist inzwischen auch als Nachruf auf den im November 2019 verstorbenen Martin Geck zu lesen. Ein Register der behandelten Werke Beethovens und ein Abbildungsverzeichnis komplettieren den schmalen, aber gewichtigen Band.
Günter Matysiak