Peter Tschaikowsky

Sleeping Beauty – A Dramatic Symphony

Baltic Sea Philharmonie, Ltg. Kirstjan Järvi

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Sony Classical
erschienen in: das Orchester 05/2021 , Seite 81

Kristjan Järvi ist nicht nur jemand, der eine sehr persönliche Sicht auf die Partitur hat, wobei er zumeist durchaus energiegeladene Interpretationen liefert, er ist auch ein Dirigent, der sich die Mühe macht, Partituren intensiv zu lesen. Dass er dabei überaus experimentierfreudig ist, beweisen seine zahlreichen Cross-over-Projekte, in denen er Klassik, Hip-Hop, Pop und Jazz verbindet.

Mit einer geradezu verführerischen Attraktivität bearbeitet er auch gerne bekannte Kompositionen, jüngstes Beispiel hierfür die Ballettmusik zu Dornröschen von Peter Tschaikowsky. Neu arrangiert und auf rund 70 Minuten kondensiert, ist eine symphonische Synthese entstanden, die das dichte dramatische Netz an motivischen Beziehungen vielleicht intensiver in Klang umsetzt als das Original. So kommt es, dass man die Ballettmusik, die sonst fast drei Stunden dauert, quasi als „instrumentales Theater“ im Schnelldurchgang neu hören darf. Dies kommt womöglich den Bedürfnissen unserer heutigen schnelllebigen Zeit entgegen und erschließt neue Hörergruppen? Wem diese 70 Minuten noch immer zu lang sind, für den hat Sony noch drei Singles aus der Ballettmusik herauskristallisiert.

Die Konzeption folgt Järvis früheren Veröffentlichungen von Tschaikowskys Balletten Schneeflöckchen und Schwanensee. Das Ganze erinnert ein wenig an die Comic-Reihe Illustrierte Klassiker – Die spannendsten Geschichten der Weltliteratur, an deren Ende immer der „kategorische“ Imperativ steht: „Jetzt hast Du die Illustrierte Klassiker-Ausgabe gelesen. Versäume auf keinen Fall, Dir die Original-Ausgabe dieses Buches zu besorgen.“

Järvis kompositorisches Kondensat stellt für die phänomenal aufgestellten Instrumentalisten der Baltic Sea Philharmonic kein spieltechnisches Problem dar. Die Musiker musizieren wie unter Starkstrom frohgemut und überschäumend vor couragierter Virtuosität. So kommt keine Sekunde Langeweile auf. Mit welcher Energie da beim Musizieren die gesamte Bandbreite von burlesk bis parodistisch, von derb bis motorisch furios durchschritten wird, das ist beachtlich. Farbiger, leuchtender, raffiniert-verführerisch aufgepeppt kann man diese Bearbeitung von Tschaikowskys Musik nicht wiedergeben: Wohlklang in Samt und Seide, Glanz und Glorie. Alles in allem eine Aufnahme, die ihren Wert aus dem scheinbar Widersprüchlichen gewinnt, auch noch dort, wo sich der Eindruck des Verfehlten einstellt. Wem mehr an den melodischen Highlights als am subtilen Klangkosmos Tschaikowskys liegt – daran ist ja nichts Verwerfliches –, der wird hier bestens bedient.

Ein ganz wesentlicher Aspekt der Musik Tschaikowskys wird leider in dieser Bearbeitung unterschlagen, nämlich der einer suggestiven Klanglichkeit, die entsteht, wenn man sich dieser Musik mit einer Haltung nähert, die einst als Muße bezeichnet wurde.

Das CD-Beiheft enthält zwei persönliche Beiträge von Kristjan Järvi und Marzena Malinowska, leider jedoch kaum Informationen über Komponist und Werk.

Michael Pitz-Grewenig