Helmut Well
Skala – Akkord – Funktion
Theoriegeschichtliche und satztechnische Aspekte der Klangorganisation vom 16. bis zum 18. Jahrhundert
Musiktheorie gilt vielen bis heute als praxisfern und als Spielwiese für eine kleine Schar von Spezialisten. Dabei liefert sie doch die wichtigsten Voraussetzungen für das Verständnis musikhistorischer Abläufe und Veränderungen. Helmut Well zeichnet in seinen Betrachtungen diese wichtige Phase der europäischen Musikgeschichte anhand der im Laufe von rund 200 Jahren entstandenen theoretischen Arbeiten minutiös nach. In den drei Termini seines Titels beschreibt er zugleich den Gang der Musiktheorie von dem aus früherer Zeit überlieferten „horizontalen“ System der kirchentonartlichen Modi über den mehr und mehr in Betracht genommenen Aspekt der „vertikalen“ Gleichzeitigkeit bis hin zu deren Abstraktion in der von Rameau begründeten Funktionalität der Akkorde in einem größeren Satzzusammenhang. Viele der frühen Theoretiker waren zwar auch Komponisten, doch erst mit Jean-Philippe Rameau trat einer der besten Musikschöpfer seiner Zeit auf den Plan, um auch die Theorie auf ein ganz neues Fundament zu stellen.
Im einleitenden „historischen Rahmen“ seines Buchs stellt Well denn auch dessen Leistung als Theoretiker besonders heraus, und anhand des Überblicks über die genannten zwei Jahrhunderte hebt er Rameau gleichsam als Ziel- und Angelpunkt einer Entwicklung hervor, die sich bis zur Gegenwart hin fortgesetzt hat. Über den Abriss der historischen Entwicklung der Theorie hinaus liefert Well auch eine große Anzahl von praktischen Beispielen zu deren Verifizierung in Musikwerken der jeweiligen Epoche.
In einem umfangreichen Anhang, der rund ein Viertel des Bandes ausmacht, sind Beispiele aus dem Schaffen namhafter Komponisten wiedergegeben. Ausführlich betrachtet der Autor die Fugen-Beantwortung, was von Froberger über Pachelbel, Werckmeister und Mattheson bis zu J.S. Bach verfolgt wird, denn gerade hier wird die Verschiebung der Betrachtungsweise im Laufe der Zeit nur zu deutlich.
In einer Reihe von „Werkbetrachtungen“ exemplifiziert Well seine theoretischen Erkenntnisse auch anhand von Musikbeispielen und versucht hiermit das Vorurteil zu entkräften, Theorie und Praxis klafften stets auseinander. Die große Ausnahme war und bleibt wohl bis heute Rameau, der ebenso genial als Theoretiker wie als Komponist war.
Im Rahmen des mit „Voraussetzungen“ überschriebenen Anfangskapitels wird deutlich, dass sich Well stark an den Notentexten orientiert, was so weit geht, dass er das Vorkommen von „kleinem“ und „großem“ Ganzton, die sich zur reinen Terz ergänzen, für die Praxis in Abrede stellt, wiewohl gerade diese Differenz für einen „sauberen“ harmonischen Zusammenklang von großer Wichtigkeit ist (der Ditonus besitzt im übrigen das Schwingungsverhältnis 81/64 und nicht, wie angegeben, 81/80). Doch dies schmälert nicht den Wert dieser insgesamt bewundernswerten Arbeit, die vom Leser allerdings
viel Fachwissen verlangt und keineswegs als einfache Lektüre angesehen werden kann.
Gunter Duvenbeck