Eugène Ysaÿe

Six Sonatas for solo violin

Stefan Tarara (Violine)

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Ars Produktion
erschienen in: das Orchester 05/2018 , Seite 74

Eugène Ysaÿe war ein Romantiker und Visionär, mit ihm begann eine neue Zeitrechnung in der Geschichte des Violinspiels. Er war der Schöpfer eines neuen Tonideals, eines modernen, romantisch schwelgerischen Klangs, zu dem natürlich Vibrato gehörte.
Wenige Jahre trennten Ysaÿe von dem immer noch brillant spielenden Pablo de Sarasate und dem schon etwas betagten Joseph Joachim. „Sein Ton war von edler Größe, modulationsfähig in höchstem Maße“, schreibt Carl Flesch in seinem Buch Erinnerungen eines Geigers. Ysaÿe eröffnete dem Geigenspiel tatsächlich ein neues Genusspotenzial – durch den Facettenreichtum an Farben, durch Wärme, durch die Üppigkeit des Tons. Er war der geniale Gegenpol zum zirzensischen Paganini-Typ. In seinem Spiel, man kann es sogar noch auf Schallplatte nachhören, findet man all das, was man heute von einem Geiger erwartet.
Ysaÿe war einer der letzten Geiger, die auch als Komponist Bedeutung erlangte, die Sechs Sonaten für Violine solo op. 27 sind sein Meisterstück. Hier will er noch einmal zeigen, wie viel Harmonik und Poly­fonie man auf der Geige darstellen kann, auch das Vorbild Bach ist stets präsent. Es handelt sich um ungemein vielschichtige Kompositionen, und sie sind auf ihre jeweiligen Widmungsträger zugeschnitten: Joseph Szigeti, Jacques Thibaud, Georges Enescu, Fritz Kreisler, Mathieu Crickboom und Manuel Quiroga.
Im Konzertsaal hört man Ysaÿe nach wie vor relativ selten, meist erklingen einige Sätze als Zugabe, die kompakte dritte Sonate ist besonders beliebt. Jedoch ist die Zahl der Einspielungen in den vergangenen Jahrzehnten signifikant angewachsen. Davon sind einige Aufnahmen herausragend, etwa die Klassiker von Gidon Kremer, Frank Peter Zimmermann oder die neue Aufnahme mit Tianwa Yang, die den gesamten Zyklus auch im Konzert spielt.
Die nie auf puren Effekt zielenden Sonaten lassen ein faszinierendes Spektrum an Interpretationsmöglichkeiten zu. Stefan Tarara, der hier seine dritte CD bei Ars Produktion vorlegt, zeigt sich geigerisch souverän und fantasiebegabt, er hat Ideen, diese gestalterischen Freiräume zu füllen. Organisch entwickelt er etwa den Spannungsverlauf der Sonate Nr. 3 (Ballade), mit großer Ruhe gestaltet er den tiefschürfenden langsamen zweiten Satz (Malinconia) der Sonate Nr. 2, auch die Stimmung des Tagesanbruchs (L’Aurore) am Beginn der Sonate Nr. 5 nimmt gefangen.
Insgesamt gelingen dem 1986 in Heidelberg geborenen Geiger klangschöne, musikalisch plausible Darstellungen, aus denen ein großer Ausdruckswille spricht. Tarara spielt hier auf einer Stradivari von 1721, die einmal Fritz Kreisler gehört haben soll. Der Klang dieses Instruments prägt den Charakter, die gesamte Aura der Einspielung natürlich entscheidend mit, ein Glücksfall.
Norbert Hornig