Richard Strauss

Sinnbild

Strauss Songs. Hanna-Elisabeth Müller (Sopran), WDR Sinfonieorchester Köln, Ltg. Christoph Eschenbach

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Pentatone
erschienen in: das Orchester 04/2023 , Seite 71

Richard Strauss komponierte 220 Lieder, zugleich vollgültige Werke und musikalische Notizen, die verschiedenste Gedanken, Stile und Ausdrucksformen festhielten – vom Jugendstil über Impressionismus und Expressionismus bis hin zur musikalischen Satire im Krämerspiegel. Es ist sehr erfreulich, dass sich mit Hanna-Elisabeth Müller eine Sängerin der jungen Generation an die Orchesterlieder von Strauss heranwagt. Zu Recht wird seit ihrem Debüt ihre helle, silbrige Stimme gerühmt. Das verbindet sie mit Pauline de Ahna, der Frau des Komponisten, die diese Lieder in vielen Konzertsälen der Welt vortrug.
Beim ersten Hören erfreut die Klarheit von Hanna-Elisabeth Müllers Stimme. Zusammen mit dem Orchester ergibt sich ein Klang, der gängige Strauss-Vorurteile widerlegt. Da ist kein übermäßiger Schwulst, kein Kitsch, trotz des herrlichen Wohlklangs. Der Sängerin gelingen bewegende Momente, etwa wenn sie den Anfang von Morgen! fast wie gesprochen deklamiert oder die tiefe Innerlichkeit der Verszeile „stumm werden wir uns in die Augen schauen“ im selben Lied schlicht und dennoch ausdrucksvoll vorträgt. Sie trifft in Winterweihe überzeugend den Volksliedton in der Anfangszeile. Doch wenn die Lieder Dramatisches ausdrücken, wenn die für Strauss so typischen Steigerungen einsetzen, wenn beim Singen „Sprechen“ und Deklamieren gefordert werden, wenn in kürzester Zeit der Ausdruck geändert werden muss, dann kommt Hanna-Elisabeth Müller an eine Grenze. Sie schaltet dann bisweilen auf opernhaft großen Ton um – den sie sicherlich haben muss – und vernachlässigt dabei die Gestaltung im Detail.
Für die Musik von Strauss ist eine genaue Artikulation, sind Betonungen, Aufschwünge, aber auch Artikulationspausen wichtig. Insbesondere in den Vier letzten Liedern fehlt eine solche rhythmische Gestaltung. Vor allem die langen melismatischen Stellen wirken deshalb etwas vordergründig. Dieser Mangel an Artikulation ist allerdings nicht allein der Sängerin anzulasten. Christoph Eschenbach am Dirigentenpult lässt Motive und Melodiefiguren weitgehend neutral, ohne Kontur vom Orchester spielen. Dadurch leuchten zwar viele Klangfarben auf, aber die Strauss’sche Orchesterpolyfonie und damit die Vielfalt der Ebenen dieser Musik bleibt ungehört.
Doch trotz dieser Einwände: Wer Hanna-Elisabeth Müller das letzte der Vier letzten Lieder singen gehört hat, in dem sie sehr intensiv und gleichzeitig zurückgenommen schlicht Eichendorffs Im Abendrot gestaltet, spürt, dass hier eine wunderbare Sängerin erlebt werden kann, der es um Tiefe und Nachdenklichkeit geht. Sie erfasst mit höchster Intensität die Stimmung eines Sonnenuntergangs, die zugleich Schönheit und Todesgedanken enthält. Wem dies in so jungen Jahren in dieser Eindringlichkeit gelingt, von dem ist noch Bedeutendes zu erwarten.

Franzpeter Messmer