Wagenaar, Johan

Sinfonietta / Symphonic Poems Vol. 2

Nordwestdeutsche Philharmonie, Ltg. Antony Hermus

Rubrik: CDs
Verlag/Label: cpo 777 933-2
erschienen in: das Orchester 05/2015 , Seite 81

Bei der ersten Begegnung mit Johan Wagenaars Musik darf man getrost ein wenig irritiert sein. Da hat also einer, der im gleichen Jahr wie Delius und Debussy geboren wurde, mit einer melodischen Beschwingtheit und unbekümmerten Direktheit komponiert, die geradewegs an die Tonsetzer des 18. Jahrhunderts denken lassen. Und er tat dies nicht etwa nur in einem sinfonischen Frühwerk wie der etwa achtminütigen Frühlingsgewalt von 1894. Er tat dies ebenso in Spätwerken wie seiner Molière-Ouvertüre Amphitrion oder der Sagen-Programmmusik Elverhöi, die erst um das Jahr 1940 entstanden sind. Allein schon diese Kontinuität in Stil und Haltung – über ein wild bewegtes halbes Jahrhundert hinweg – ist bemerkenswert.
Johan Wagenaar (1862-1941) war ein bedeutender Organist und Chorleiter und fast zwanzig Jahre lang der Direktor des Den Haager Konservatoriums. Er gilt bis heute als der wichtigste niederländische Komponist seiner Epoche. Zweifellos hat Wagenaar seine Zeitgenossen rezipiert: Wagner, Brahms, Mahler, Strauss, Dvorák, Tschaikowsky und wohl auch französische Komponisten. Immer wieder kann man in seiner Musik Stilmittel entdecken, die auf diese Kollegen verweisen, aber es bleiben doch Gesten, oberflächliche Momente. Das Chromatische ist bei Wagenaar eher ein humorvoller Effekt, nicht etwa tonale Auflösung. Seine fröhliche Melodik und sein rhythmischer Gestus stehen einem Mozart näher als allem spätromantischen Tiefsinn und modernistischen Experiment. Manchmal klingt es fast, als hätte da einer um 1820 herum versucht, sich komponierend die verrückte Musik der Zukunft auszumalen. Oder als hätte einer die musikalische Moderne heiter veralbern wollen. Oder als hätte einer die Aufgabe gestellt bekommen, verschiedene zeitgenössische Stilmittel zu verwenden, ohne dabei das konservative Konzertpublikum zu vergraulen. Aufgabe erfüllt!
Für den heutigen Interpreten von Wagenaars Sinfonischen Dichtungen ist die musikgeschichtliche Exklave des Komponisten keine leichte Herausforderung. Versteht man ihn als modernisierten Mozart? Als romantische Frohnatur? Oder als altmodischen Kauz? Antony Hermus und die Nordwestdeutsche Philharmonie finden auf ihrer zweiten Wagenaar-CD (die erste erschien 2009) viele inspirierende Antworten. Das Orchester klingt hellwach, aber herzhaft, es agiert rhythmisch entschlossen und doch heiter entspannt, es versöhnt das Konventionelle der Haltung mit dem individuell Abwegigen der Sprache. In diese interpretatorische Gratwanderung ist viel Feingefühl eingeflossen. Letztlich aber stellt sich dem ernsthaften Musikhörer dennoch die entscheidende Frage: Darf man sich an diesem Wagenaar erfreuen – oder sollte man ihn besser ignorieren? Die vorliegende Einspielung ist ein starkes Argument für die erste Option.
Hans-Jürgen Schaal

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