Bruckner, Anton

Sinfonie Nr. 9 d-Moll

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Sony Music 8869 754 2572
erschienen in: das Orchester 04/2010 , Seite 75

Denkt man an Bruckner, so hört der eine oder andere den imaginären sahnigen Schmelzklang des großartig aufeinander abgestimmten Blechs im geistigen Ohr, das wild vorwärtsdrängende, geordnete Wüten der Streicher oder die farbigen Ruhepunkte selbstvergessener Kontemplation der solistischen Holzbläser. Und das alles wie von einem beinahe mit Geisterhand lenkenden, erfahrenen Dirigenten, der die schönsten Momente auf Bruckner’scher Cinemascope-Leinwand malt. Doch wie so oft scheitern diese an der Prachtfülle und verordnen den monumentalen Sinfonien eine Abmagerungskur, entschlacken den inneliegenden Pathos, halten die überdimensionalen Spannungsbögen nicht aus und galoppieren dort emsig davon, wo apollinische Erhabenheit gefordert wird.
Nicht so bei der vorliegenden Neuaufnahme der letzten Sinfonie d-Moll von Anton Bruckner mit dem hr-Sinfonierchester mit Paavo Järvi am Dirigentenpult. Von der Neunten mag man gar nicht reden, da es in Wahrheit mindestens seine elfte war, von den vielen Revisionen einmal ganz abgesehen.
Gleich zu Beginn schlängeln sich über den oboengefärbten Klängen die rahmigen Hörner unter innerer Spannung bis zum ersten Ausbruch, die Tempi sind dabei stets behutsam gewählt ohne zu schleppen mit innerem, beinahe schlafwandlerischem Puls. Die Orgelklänge der Bläser, insbesondere der acht Hörner und der Posaunen, sind bestens mit den hohen Trompeten austariert, die Dynamik sehr differenziert, zeitweise aber auch herb, da manche Solostellen der zweiten und tiefen Stimmen nicht wohlklangig heraustreten. Die Übergänge von einem Thema zum anderen nach den Fermaten und Generalpausen werden bis zum Äußersten ausgekostet, die Ausbrüche kommen wohldosiert wie eine Wolke daher, aber nie brutal überakzentuiert und guillotinenhaft abgeschnitten, sondern tönen und verhallen mit erhabener Würde und bescheidener Freundlichkeit.
Das Scherzo ist gekonnt österreichisch markant und bodenständig-zupackend interpretiert, das Trio dafür fast geister- oder elfenartig geschwind, vielleicht eine Idee zu hastig genommen, da die Flöten für ihre Sechzehntel sehr wenig Raum haben; es polarisiert aber umso mehr als schneller Gegensatz zu den Rahmenteilen. Der langsame Satz bietet mit 27 Minuten Länge viel Klangraum für sinnliche Momente majestätischer Beschaulichkeit, vergisst jedoch auch nicht die feierlichen Breitband-Götterdämmerungs-Offenbarungen im dreifachen Fortissimo hervorzuheben.
Die Musiker des Orchesters folgen den Intentionen ihres Dirigenten mit akkuratem Strich und gepflegter Homogenität, hoher Spielfreude und bestechender Prägnanz: Heraus gekommen ist eine Aufnahme, die unter der neueren Dirigentengeneration ihresgleichen sucht. Järvis Bruckner-Interpretation ist eine berührende Wohltat für Ohr und Gemüt, sie lässt das Ariose und Kantable natürlich strömen und lässt die nötige Seelenruhe in zurücklehnender Kanapeegemütlichkeit und abgründiger Tiefe ohne zerstörerische Hast wie selbstverständlich mit einem verschwenderisch entschleunigten Zeitmaß atmen.
Werner Bodendorff