Mahler, Gustav

Sinfonie Nr. 3 d-Moll

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Coviello Classics 30513
erschienen in: das Orchester 06/2006 , Seite 86

Hier gilt es zwei Neueinspielungen je einer Sinfonie von Gustav Mahler zu besprechen. Zum einen geht es um die 1902 in Krefeld uraufgeführte dritte Sinfonie, Mahlers vielleicht romantischstes, charakteristischstes und weltumgreifendes Werk, auf das sein Zitat gemünzt war: „Dass ich sie Sinfonie nenne, ist eigentlich unzutreffend, denn in nichts hält sie sich an die herkömmliche Form. Aber Sinfonie heißt mir eben: mit allen Mitteln der vorhandenen Technik eine Welt aufbauen.“ Praktisch alles, was Mahlers Musik ausmacht, ist hier vorhanden: grelle Collage, weite Bögen, komplexe Polyfonie auf allen Ebe-nen, Nostalgie (mit Posthornsolo), grobe Zusammenbrüche des Riesenorchesters und geradezu kammermusikalische Feinheiten, Menschenstimmen (Alt-Solo, Kinderchor und Frauenchor), Naturlaut und Adagio-Schönheit, Letztere sogar als Finale.
Zum anderen geht es um Mahlers bei seinem Tod 1911 als Partiturskizze nachgelassene zehnte Sinfonie, in der ersten und musikwissenschaftlich umstrittenen „aufführungsfertigen Version“ (performing version, keine Komplettierung!) durch den britischen Musikwissenschaftler Deryck Cooke, bei der ihm Colin und David Matthews sowie der Emigrant Berthold Goldschmidt behilflich waren; Letzterer dirigierte auch die Uraufführung dieser Version 1964 in London. Im ersten, vom Komponisten ja weitgehend ausgeführten Adagio fügte Cooke zahlreiche Bläser-Verdopplungen ein. Dirigent Michael Gielen retuschierte diese Fassung in der vorliegenden Aufnahme seinerseits an mindestens drei Stellen: Im ersten Scherzo lässt er die Passage der ersten Violine(n) von Takt 470 bis 477 solistisch ausführen, je einen Beckenschlag fügte er im vorletzten Takt des ersten Scherzos und in Takt 486 des zweiten Scherzos hinzu.
Die Dritte füllt mit 98 Minuten eine Doppel-CD, die Zehnte mit 77 Minuten randvoll eine einzelne CD. Am 26. und 27. September 2004 wurde in der Stadthalle Braunschweig ein Konzert mitgeschnitten; vom 17. bis 19. März 2005 im Konzerthaus Freiburg offenbar auch, zumindest lassen das dort winzige Ungenauigkeiten vermuten. Sowohl Jonas Alber, der 1998 mit 29 Jahren GMD in Braunschweig wurde, als auch Michael Gielen, von 1986 bis 1999 Chefdirigent des SWR Sinfonieorchesters Baden-Baden und Freiburg sowie seitdem dessen ständiger Gastdirigent, setzen auf einen mehr „sachlichen“ Mahler-Stil. Taktschwerpunkte und Vorhalte werden eher leicht genommen, der Umgang mit Mahlers minutiöser Tempowechsel-Dramaturgie erscheint bei beiden Dirigenten etwas zu frei. Alber bleibt reichlich brav, gelangt kaum auf die Höhe von Mahlers dringlichen Spielanweisungen wie „äußerst gesanglich“ und „sehr leidenschaftlich“, während Gielen bei allen Einwänden zu einer packenden und letztlich überzeugenden Deutung findet, die keine Sekunde langweilt.
Wobei beide Orchester dadurch beeindrucken, dass sie freudig an die Grenze ihrer (jeweils unterschiedlichen) Leistungsfähigkeit zu gehen scheinen. Hut ab vor dem Staatsorchester Braunschweig, einem der ältesten (gegründet 1587!), aber weniger bekannten deutschen Kulturorchester. Einen solchen sinfonischen Achttausender sicher ohne (um im Bild zu bleiben) Abstürze zu besteigen, ist für diesen Klangkörper mehr als respektabel. Man tut freilich niemandem Unrecht, wenn man im Vergleich dazu wieder einmal von dem warmen und prägnanten, meist auch durchsichtigen Weltklasse-Charisma des SWR Sinfonieorchesters hingerissen ist.
Ingo Hoddick