Alfredo Casella

Sinfonie Nr. 2/La Donna Serpente

Sinfonieorchester Münster, Ltg. Fabrizio Ventura

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Ars Produktion
erschienen in: das Orchester 12/2017 , Seite 65

Wo viele Spätromantiker noch einmal eine Klangwelt diesseits der Schwelle zur Moderne auftürmten, ohne diese wirklich zu überwinden, da wagte der italienische Komponist Alfredo Casella durchaus aktivere Vorstöße in unbekanntes Terrain. Lag es an der eigenen Wirkungsstätte in Paris, wo Casella bei Gabriel Fauré studierte und wo er in einem Schmelztiegel für viele Strömungen und Nationalstile schnell heimisch wurde? Zugleich hat Casella auch das spätromantische Erbe eines Richard Strauss oder Gustav Mahler nie vernachlässigt. Mit Letzterem fühlte er sich geradezu seelenverwandt. Aber wie der italienische Komponist solche Einflüsse beantwortet, zwischen ihnen vermittelt und aus ihnen bei allem Eklektizismus immer wieder eigene starke melodische Einfälle schöpft – das ist durch und durch Casella! Und: Wo Italien im ausgehenden 19. Jahrhundert fast ausschließlich mit Opern in Erscheinung getreten war, markiert Alfredo Casella mit einem beachtlichen sinfonischen Schaffen auf jeden Fall eine neue Aufbruchstimmung, die später den echten italienischen Neutönern den Weg bereitete.
Es gibt also genug Gründe,
Casellas Sinfonik wieder aus dem Dornröschenschlaf zu erwecken. Dies leistet aktuell der aus Rom stammende Dirigent Fabrizio Ventura, der in diesem Jahr seine höchst erfolgreiche Zeit als Chefdirigent des Sinfonieorchesters Münster beschließt. Im Frühjahr führte er Casellas zweite Sinfonie sowie ein Suiten-Exzerpt aus der Oper La Donna Serpente auf und wurde vom Publikum dafür enthusiastisch gefeiert. Jetzt dokumentiert ein Livemitschnitt auf CD, dass die Chemie in Münster auf jeden Fall stimmte. Ein erfrischend hellhöriger Zugriff setzt hier maximale energetische Leidenschaft frei.
Vor allem der scherzohaft vorwärtstreibende zweite Satz und ein kolossaler Trauermarsch evozieren Parforceritte, bei denen die Münsteraner Sinfoniker ihren Dirigenten in keinem Moment im Stich lassen. Ja, man möchte manchmal kaum ruhig sitzen bleiben angesichts dieser rhythmischen Wucht, die für ein Sinfonieorchester gar nicht selbstverständlich ist. Tiefschürfende Kontraste steuert der nicht minder komplexe Adagiosatz bei; hier lässt das von Fabrizio Ventura dirigierte Orchester die Klangfarben – vor allem die der Streicher! – faszinierend differenziert aufleuchten. Eine ähnliche Bandbreite lebt, wenn auch in zeitlichem „Kleinformat“ relativ kurzer Stücke, in den Suitensätzen auf, welche der Oper La Donna Serpente entlehnt sind.
Liegen solche starken Eindrücke neben der bestechenden Klangqualität dieser Super Audio Compact Disc (SACD) womöglich daran, dass Fabrizio Ventura schon in seiner Jugend tief in die Instrumentationslehre von Casella eingedrungen ist? Jener legt in einem Lehrbuch dar, wie ein Maximum an Effekt aus dem vielfältigen Apparat eines Orchesters herauszuholen ist. Hinzu kommt, dass das Verfahren der Liveaufnahme spürbar den organisch atmenden Bogen verdichtet – und der ist nach Venturas eigenem Bekunden viel wichtiger als ein auf die Spitze getriebener Perfektionismus.
Stefan Pieper