Rott, Hans

Sinfonie Nr. 1 E-Dur/Suite für Orchester B-Dur

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Sony Music 88691963192/RCA Red Seal
erschienen in: das Orchester 12/2012 , Seite 72

Welch unterschiedliche Episoden die Entdeckungsgeschichte eines Komponisten durchlaufen kann, wird an Hans Rott deutlich: Die E-Dur-Sinfonie des bis dahin kaum bekannten Wiener Spätromantikers schlug bei der Uraufführung 1989 ein wie eine Bombe und förderte einen Meister zu Tage, der 1884, im zarten Alter von 26 Jahren, geistig umnachtet und viel zu früh gestorben war. Damit nicht genug: Rott stand als Studienkollege in direkter Beziehung zum “Übersinfoniker” Gustav Mahler, der Rott mehr als nur schätzte. Beinahe noch schwerer wiegt, dass der dritte Satz aus Rotts E-Dur-Sinfonie (1880) verblüffende Ähnlichkeiten zum Scherzo aus Mahlers erster Sinfonie aufweist – das allerdings mehrere Jahre später entstand.
Seitdem diese Erkenntnis offenbar und gebührend gefeiert wurde, ist nun auch wieder einige Zeit vergangen. Es gibt rund zehn Aufnahmen der E-Dur-Sinfonie, einige weitere Einspielungen etwa der Streichersinfonie As-Dur und des Streichquartetts c-Moll, eine Hans-Rott-Gesellschaft und ein Rott-Portal im Internet (www.hans-rott.de). Letzterem kann man entnehmen, dass die E-Dur-Sinfonie 2013 auch im Konzertsaal vier Mal zu hören sein wird: in Helsinki, Weimar, Santiago de Compostela und natürlich dem Mahler-Wallfahrtsort Toblach.
Doch es nehmen die Versuche zu, Rott nicht nur im Lichte Gustav Mahlers zu betrachten; das hat zum Beispiel Johannes Volker Schmidt mit seiner Biografie 2010 unternommen. Auch die vorliegende Neueinspielung mit dem Frankfurter hr-Sinfonieorchester unter Leitung von Paavo Järvi legt deutlich mehr Einflüsse als den Mahlers offen: Choräle und blockartige Strukturen wie bei Bruckner, Mischklang und Harmonik wie bei Wagner, immer wieder auch Anklänge an Brahms. Ob Rotts erste Sinfonie
indes wirklich ein “missing link” zwischen Bruckner und Mahler ist, wie Adam Gellen es im Booklet vermutet, sei dahingestellt. Die Zeit der teleologischen Musikgeschichtsschreibung ist eigentlich vorbei.
Dass Rotts E-Dur-Sinfonie so spannend ist, liegt natürlich auch an der reizvollen Verarbeitung von Fremdimpulsen, doch mindestens in gleichem Maße an immer wieder überraschenden, ganz autarken Wendungen und einer groß gedachten Form, aus der Rott gern mit jugendlicher Wildheit und genialischem Erfindungsgeist ausbricht. Erstmals zu hören sind auf dieser CD übrigens zwei kleine Sätze aus einer B-Dur-Suite für Orchester (1877), die zwar geschickte Fingerübungen sind, aber gegenüber der Sinfonie letztlich harmlos ausfallen.
Im Vergleich zu den bereits vorliegenden Einspielungen bietet Paavo Järvis Lesart keine revolutionären Neuerungen, doch immerhin ist es die erste Aufnahme seit mehreren Jahren – und sie kann tontechnisch wie musikalisch voll überzeugen. Järvi nimmt die Tempi fließend, ohne zu hetzen und verpflichtet sein Orchester – das mit den großen Sinfonien des Fin de Siècle ja bestens vertraut ist – dem feinsten Mischklang. Zugleich legt er jedoch Brüche offen: Wenn der erste Satz bereits nach zwei Minuten strahlend seinen Höhepunkt erreicht zu haben scheint, gibt er der ganzen überschäumenden Kraft des jungen Rott Raum.
Johannes Killyen